diskus 3/98

Heute schon Lenin gelesen?

Wenn Liberale Linken vorwerfen, diese würden wieder die alte Klassenkampfrhetorik auspacken, treffen sie in einem ganz anderen Sinne, als ihnen vorschwebt, einen wunden Punkt. Denn große Teile des traditionellen Marxismus betreiben – so Manon Tuckfeld in ihrer Dissertationsveröffentlichung – wirklich nur Rhetorik. Oft werde der Kampf nicht wirklich »gekämpft«, als konstitutiv und geschichtsmächtig gedacht, sondern nur als eine Le(e/h)rformel lose an ökonomistische Grundmuster angehängt.

»Warum kämpfen Menschen?«
Das ist die leitende Frage in Tuckfelds Arbeit. Ihr geht es dabei nicht um eine Analyse einzelner, konkreter Auseinandersetzungen, sondern um eine Theorie der Kämpfe im Marxismus. Ihre Diagnose lautet: »Marxistische Theoriebildung hat traditionell ein schwieriges Verhältnis zu Fragen der Kämpfe.« Im Marxismus wese die »Behauptung der historischen Unhintergehbarkeit des Sieges der Arbeiterklasse und die damit einhergehende fehlende Bereitschaft, den (Klassen-) Auseinandersetzungen einen relevanten Status innerhalb der marxistischen (...) Theorie zu verleihen.« Für eine solche Theorie der Kämpfe – verstanden als politische oder ideologische Auseinandersetzung ohne ökonomische, bzw. historische Determinierung – kommt mensch nicht umhin, sich mit Ideologietheorie zu beschäftigen, d.h. nach der »Möglichkeit einer (relativen?) Autonomie der Kämpfe« zu fragen. Ökonomismus und Geschichtsteleologie sind also die Spielarten marxistischer Theoriegeschichte, die als Gegner ausgemacht werden.

Per symptomaler Lektüre1 geht es auf der Suche nach dem ideologischen und politischen Gefecht quer durch Größen der marxistischen Theorie. Das nicht zu knapp geratene Programm reicht von Marx und Engels über die II. Internationale (Kautsky, Bernstein, Luxemburg) und Lenin, bis zu Lukács, Gramsci und Althusser.

Klassenkämpfe zwischen Trier und St. Petersburg
In den Kapiteln über Marx und Engels und die II. Internationale zeichnet Tuckfeld die Debatte um Ideologie, Staat, Klassenkämpfe und Politik nach, die hauptsächlich in den späten 70er und frühen 80er Jahren geführt wurde. Sie stützt sich im Wesentlichen auf die Arbeiten von Eagleton, Balibar, Haug, und Labica.

Bei Marx und Engels entdeckt Tuckfeld Ansätze für eine Ideologietheorie jenseits von Verdinglichung und Entfremdung, die theoretisch jedoch nicht ausgearbeitet worden seien. Die II. Internationale präparierte gerade die schwachen Seiten der Marxschen Erklärungen heraus und konstruierte einen umfassenden teleologischen Ökonomismus. Trotz eines »riesigen Debattierlärms« haben sich nach Tuckfeld weder Kautsky und Bernstein noch Luxemburg mit Politik und Ideologie »im Handgemenge« theoretisch beschäftigt.

Mit Lenin wird – so Tuckfeld – alles ganz anders. Das mag angesichts von Zitaten des Kalibers »Wie die Erkenntnis des Menschen die von ihm unabhängig existierende Natur widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider.«2 etwas erstaunen. Doch Tuckfeld kitzelt aus Lenin eine Theorie der Kämpfe und der Politik hervor, die ihn in neuem Licht erscheinen lassen, d.h. sie liest Lenin nicht als Theoretiker des Stalinismus, sondern eher als Vordenker einer neuen Theorie des Marxismus. Dem Anti-Leninismus der undogmatischen Linken wirft sie vor, daß er den Blick auf theoretische Innovationen bei Lenin verstellt.

Der Abschnitt über Lenin stellt von daher den interessantesten Teil der Arbeit dar. Mit der von Althusser übernommenen Methode, politische Texte theoretisch zu lesen, gräbt sie das schon x-mal durchpflügte Feld mit der nötigen Respektlosigkeit vor großen InterpretInnen nochmal um. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß »erst durch die ›wilde‹ Praxis Lenins die kritische Hinterfragung der marxistischen Behauptung eines ›Primats der Praxis‹ bei gleichzeitiger Verdrängung der Praxis als theoretisches Problem präsent geworden ist«.

Bei Tuckfeld ist nachzulesen, daß sich die anti-ökonomistische Richtung des Marxismus schon im feudalen Rußland der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts und nicht – wie oft behauptet wird – erst in der westeuropäischen 68er-Bewegung finden lassen. Folgt man den Theorien eines determinierten Geschichtsverlaufs, stehe für das »unterentwickelten« Rußland vor jeder kommunistischen Revolution zunächst die Phase des Kapitalismus an. Doch die Bolschewiki wollten nicht, wie die deutschen Sozialdemokraten, mit dem Rechenschieber auf die Revolution warten, und setzten sich von einem deterministischen Marxismus ab. So hat beispielsweise der Hegemoniebegriff seinen Ursprung in der Revolution von 1905, wo er gegen den Reformismus der Menschewiki gerichtet war. Lenin baute das Hegemoniekonzept zu einer Bündnisstrategie des Proletariats mit den »bäuerlichen Massen« um.

Auch die wegen seiner autoritären Parteitheorie verpönte Schrift »Was tun« analysiert Tuckfeld im Hinblick auf die Frage nach der Eigenständigkeit von Kämpfen. Gerade hier verlasse Lenin klassisch ableitungslogische Konzeptionen. »Der Kerngedanke ist also der, daß die Organisation proletarischer Politik gerade in der Überschreitung, im Durchbrechen der Klassenbestimmungen liegt. Revolutionär zu sein ist nun weniger eine Frage der Klassenlage, als der der Schulung.« Dem Proletariat ist die sozialistische Ideologie also nicht in die Wiege gelegt, sondern das Klassenbewußtsein ist von außen in den Klassenkampf hineinzutragen.

In »Zwei Taktiken« identifiziert Tuckfeld neben ökonomistischen Vorstellungen von einer sich selbst perpetuierenden Reproduktion der Produktionsverhältnisse Aussagen, wonach die politischen Verhältnisse des Überbaus auch ohne adäquate ökonomische Grundlage überleben. Die Entwicklung des Ökonomischen schafft demnach zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für eine Revolution. Mitentscheidend sei die Rolle der Partei und der Agitation, um durch massive Eingriffe in die Überbauten eine umfassende politische, kulturelle, wissenschaftlichen Hegemonie erlangen zu können. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die Bourgeoisie nicht nur ökonomisch und militärisch, sondern auch ideologisch herrscht. Lenin wertet den Status von Ideologie damit erheblich auf: sie verfügt über relative Autonomie und historische Wirkmächtigkeit. Die Ökonomie verliert dabei ihre zentrale Rolle als Motor der Geschichte und Erkenntnis. Schon bei Lenin finden sich Passagen, in denen Ideologie nicht als Verblendung verstanden wird und der Ideologie nicht die Wahrheit gegenübersteht, sondern nur andere Ideologien – wonach auch der Marxismus eine Ideologie ist.

Lenin hat – wenigstens manchmal – im Gegensatz zur ganzen II. Internationale den Klassenkampf logisch den Klassen vorausgesetzt. Der Klassenkonflikt konstituiert die Klassen, »erst der Kampf teilt eins in zwei, um auch weiterhin nicht ontologisch, sondern in der Permanenz des Kampfes getrennt zu sein.« Diese für einen ›neuen Marxismus‹ wesentliche Einsicht wird bei Lenin aber selbst wieder verdeckt, indem er die Zwei-Klassen-Logik in die Ideologie überträgt. Mensch hat entweder eine bürgerliche oder eine sozialistische Ideologie, »denn eine ›dritte‹ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen«3. Nach Lenin sind die zwei Ideologien Produkte der Klassen – was aus logischen Gründen unmöglich ist, wenn Ideologien die Klassen erst hervorbringen sollen.

Paradoxien dieser Art ziehen sich durchs ganze Leninsche Werk und Tuckfeld zerrt sie unter dickem ML-Staub hervor ans Licht. Sie verschweigt nicht, wie streckenweise Althusser, die »Schattenseiten« Lenins: die Reduktion von Politik auf Charaktereigenschaften von Persönlichkeiten, seinen Lassalleanischen Glauben an den Staat und die angebliche Neutralität des Produktionsprozesses. Nichtsdestotrotz gelingt es Tuckfeld, bei Lenin das zu finden, wonach sie gesucht hat: einen positiven Ideologiebegriff jenseits von Klassenessentialismus, Ansätze zu einer Hegemonietheorie, die sich mit Bündnis- und Vermittlungsproblemen beschäftigt, sowie eine Revolutionstheorie, die nicht aus statistischen Berechnungen besteht. Lenin repräsentiert den »Spannungsbogen zwischen orthodoxen Gewißheiten und politisch kontingenter Praxis. Das Werk Lenins ist der Steinbruch, der den Stoff für einen neuen Marxismus enthält.«

Die Arbeiten Lukács’ und Gramscis analysiert Tuckfeld im Anschluß an und in Abgrenzung zu Lenin. Beide werden als »aufsässige Schüler« Lenins eingeordnet.

Insbesondere Tuckfelds Kritik an Lukács’ Verdinglichungstheorem scheint aktuell, nachdem im linksradikalen Spektrum einflußreiche Zeitschriften wie »Bahamas« oder »Kritik und Krise« derzeit wieder einen Ideologiebegriff als »notwendig falsches Bewußtsein« stark machen. Über Lukács’ Hauptwerk »Geschichte und Klassenbewußtsein« urteilt Tuckfeld: »Obwohl das Buch antiökonomistische Effekte erzielte, ist es kein solches Werk. Es ist vielmehr eine Mischung aus ökonomistischen und idealistischen Positionen.«

Bei der Rezeption Gramscis und dessen zentralen Begriffen wie Hegemonie, Ideologie, Historischer Block, Intellektuelle betont sie dessen Leninismus, um gegen die modische Vereinnahmung durch Bürgergesellschaftstheoretiker von Glotz bis Dubiel zu opponieren. Tuckfeld schließt mit einer kurzen Einführung in Althussers Reformulierungen des Marxismus.

Leider ist Tuckfeld nicht – wie ursprünglich geplant – bis zu den in der derzeitigen Diskussion um (Post-)Strukturalismus, Dekonstruktion und Frankfurter Schule maßgeblichen Theorien gekommen. Das Buch bietet jedoch einen einführenden Leitfaden und markiert die Stellen, an denen das Weiterdiskutieren sinnvoll erscheint – häufig sind dies aber genau jene, an denen ihre Fragestellung nach »den Kämpfen« in den Hintergrund rückt.

In die Abstraktheit des Begriffs der Kämpfe mischt sich immer wieder die Assoziation mit alten und neuen sozialen Bewegungen. Das wirft die Frage auf, ob – entsprechend diesen zumindest teilweise emanzipatorischen Kämpfen – Rassismus und Antisemitismus ebenfalls als »kämpfende Bewegungen« zu analysieren wären.

Lutz Eichler


Manon Tuckfeld: Orte des Politischen. Politik, Hegemonie und Ideologie im Marxismus. Deutscher Universitäts- Verlag, Wiesbaden 1996. Dissertation vorgelegt am FB Gesellschaftswissenschaften, Uni Frankfurt; DM 86,–

x 1 x Eine symptomale Lektüre hat die Rekonstruktion der »Problematik« eines Textes zum Ziel, d.h. des theoretisch-analytischen Bezugsrahmens, in dem bestimmte Begriffe, Konzepte, Theorien etc. funktionieren. Vgl. Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt/M. 1968
x 2 x W.I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. Zitiert nach Marx/Engels: Ausgewählte Werke, Moskau 1913, S. 22
x 3 x Lenin: Was tun? In: Ausgewählte Werke, S. 375