Heft 4/98

garip dünya


»Einsatz. Spannung. Chancen.« -- Das freiwillige Jahr im Unternehmen (FJU)
Oder: Was Rucken und Backen gemeinsam ist

Am 1. September diesen Jahres war es endlich soweit. Seit diesem Zeitpunkt können Männer und Frauen zwischen 16 und 27 Jahren im Rahmen eines Modellprojekts ihre »Kultur der Selbständigkeit« unter Beweis stellen: Ein Jahr lang kann die Zukunft unseres Landes, »die Herausforderungen, die Möglichkeiten, aber auch die soziale und gesellschaftliche Verantwortung freien Unternehmertums« für die Soziale Marktwirtschaft kennengelernt werden. Ausgedacht hat sich das Ganze ein »starkes Team«: nämlich das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Deutsche Industrie- und Handelstag, die Industrie- und Handelskammern, das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main und - last but not least - die Dresdner Bank AG. Über das etwas knausrige Taschengeld von 200,- bis 300,- DM pro Monat kann man leicht hinwegsehen, wenn man sich der überzeugenden Angebote des FJUs bewußt wird: »Eigeninitiative«, »Kreativität«, »Engagement«, »Umgang mit Streß und Grenzerfahrungen«, »Flexibilität«, »Investitionsplanung«, »zielgruppenorientierte Marktstrategien«, »erfolgsorientiertes Denken und Handeln« und »Controlling« sind nur einige der unternehmerischen Tricks, die da trainiert werden und ganz nach oben führen sollen. Schließlich verlangt »selbständig zu sein oder eine leitende Funktion in einem Unternehmen auszuüben« nach »Führungsqualitäten«. Und toll ist, daß man »mittendrin« ist im Geschehen, in sachbezogenen Entscheidungsprozessen und in der effizienten Organisation betrieblicher Abläufe. Klasse ist, daß man Führungskräfte live in ihrer täglichen Arbeit und mit ihren je unterschiedlichen Führungsstilen erlebt - und ganz viel Spaß dabei hat!
Noch eines im Vertrauen: Es geht bei dem FJU um unser aller Wohlstand. Unser Land braucht Leute, »die sich stärker engagieren als andere und die als ›Arbeit-Geber‹ für sich und ihre Beschäftigten Verantwortung übernehmen«. Deswegen - also wegen der »Dienste für die Allgemeinheit« - ist das FJU auch an die Seite des Freiwilligen Sozialen sowie des Freiwilligen Ökologischen Jahres gestellt worden. Denn eines sollten mittlerweile doch alle wissen: Erst wenn der Kuchen insgesamt größer ist, kriegen wir alle größere Stücke - und gut backen können eben nicht alle. Logo.
Na ja. Uwe, 19, Real-Schul-Absolvent hatte auf jeden Fall nach der Schule echt keinen Plan. Aber jetzt bekommt er langsam ’ne Vorstellung, wo’s für ihn langgeht. Ich glaube, der will Bäcker werden.

Alexandra Rau

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) 1998: Das Freiwillige Jahr im Unternehmen. Ein berufliches Orientierungsjahr für junge Frauen und Männer von 16 bis 27, Bonn


Etwas Skandal
Das Sample zum nächstgelegenen Anschlag

Die Stadt stellt das Haus zur Verfügung, das mittelfristig für den Abriß bestimmt ist. Keiner der Bewohner hat eine Arbeitserlaubnis.Ein unbekannter Täter hat am Sonntag, den 18.10.98 einen Brandsatz in ein Haus in der Willmannstraße in Fechenheim geworfen. Nach den bisherigen Ermittlungen gibt es nach Einschätzungen der Polizei keine Hinweise auf ein ausländerfeindliches Motiv.
Er bedauere den Vorfall, aber die Familie habe ein gerüttelt Maß an Schuld, da sie sich nicht angepaßt habe, erklärte der Vorsitzende des Ortsbeirates. Die Roma-Union bezeichnete Bodenstedt als geistigen Brandstifter des Anschlages. Es ist das eine, die Zuwanderung und deren Folgen zu erörtern - das muß möglich sein -, es ist das andere, der Brutalität das Wort zu reden und sei es mühsam verklausuliert. Liberalität ist keine Worthülse, sondern ein Markenzeichen dieser Stadt.
Die Fechenheimer CDU steht hinter ihm und hat die Kritik an seiner Person zurückgewiesen. Auf Reisen in orientalische Länder bemüht er sich, nicht gegen die Sitten der Einheimischen zu verstoßen.
Der Stadtteilpolitiker hat mit Sicherheit für viele gesprochen.



BigBand Alfred
Wir gratulieren Alfred Schmidt zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Band. Der berühmte Frankfurter Sozialphilosoph glänzte aber - was bisher nur wenigen bekannt war - auch in außerwissenschaftlichen Bereichen. »Mein Interesse an dem, was in der Welt vor sich geht, war immer sehr groß« betonte er in seiner Rede und verwies unter anderem auf sein Schaffen in der Unterhaltungsmusik. Alfred Schmidt hat immer Wert darauf gelegt, nicht im Elfenbeinturm der Universität einschließen zu lassen sich. Auf dem Photo sehen wir, wie der junge Schmidt den Bass in der frühen Max-Greger-Big-Band bedient, um der Welt die Grundbegriffe des Swing beizubringen.
Denn »blickt man in die Welt, dann sieht sie so aus, als hätten Musiker wie Glenn Miller oder Duke Ellington nie gelebt«. Dennoch will er auch in Zukunft das Banner der Aufklärung hochhalten; das nächste Mal im Mai 1999 bei seinem Vortrag über den »Septimakkord im Dichten und Denken von Elvis Presley«.

nach: Frankfurter Rundschau vom 18. 11. 1998


Die Berglöwin und Los Angeles
1989 legte die USA einen Pestizidstreifen quer durch Mexiko, um die Invasion der gefürchteten Killer-Bienen aus dem Süden aufzuhalten. Vergeblich. Und so gesellen sich die wilden Insekten den vielfältigen Gefahren hinzu, denen der Großraum Los Angeles ausgesetzt ist. Dem neuen Buch Ecology of Fear von Mike Davis zufolge hat sich L.A. zum globalen Mythos der vom Untergang bedrohten Metropole entwickelt. Davis zerlegt diesen Mythos und schreibt die Geschichten der jeweiligen »Ängste«: die seit Jahrzehnten in Filmen und Büchern kolportierten Szenarien japanischer oder marsianischer Invasionen; weiße middle-class Panikmache vor Berglöwen und Seuchen, die allzu oft Abschottungen gegenüber ImmigrantInnen legitimiert haben; wie drohende Zerstörungen durch Tornados, Erdbeben und Sturmfluten von denjenigen heruntergespielt, die sich um das Image Kaliforniens als gelobtem Land und damit v.a.D. um die Grundstückspreise sorgen. Oder die Angst vor dem Feuer. Davis beschreibt am Beispiel von Löschkonzeptionen den städtischen Klassenkampf: Während ein gigantischer Feuerwehrapparat aufgebaut wurde, um die Villen in den Hügeln Malibus zu schützen, sind die sozial deklassierten Innenstadtviertel feuerschutzpolitisch weitgehend aufgegeben. Das letzte Kapitel ist eine Art Aktualisierung des Innenstadtsicherheitausschluß-Kultbuchs City of Quartz (für ehemalige Beute-LeserInnen sei angemerkt, daß dieser Text bereits im Heft 3/94 (!) übersetzt erschienen ist). In ihm untersucht Davis, wie »Angst« zu einem zentralen Faktor für stadträumliche Polarisierungen geworden ist und sich soziale Widersprüche in segregierten Stadtvierteln und militarisierten Wohlstandsgrenzen manifestieren: in Sondergesetzzonen gegen Drogen und Prostitution, in abgeriegelten Geschäftsvierteln, in die Unerwünschte nicht hineinkommen, und quasi Internierungsvierteln, aus denen Obdach-lose nicht mehr herauskommen. Am Rande der Stadt, noch weit außerhalb der weißen Suburbs, ballen sich Gefängnisneubauten. Davis beschreibt, wie es vor Kurzem massiven Widerstand gegen den Elektrozaun eines neuen Hochsicherheitsgefängnisses gab; Widerstand zum einen, weil der Zaun einige Scharfschützen hat arbeitslos werden lassen, zum anderen weil der Zaun als Todeszaun angeprangert wurde: als Todeszaun für Zugvögel.

Christian Sälzer

Mike Davis: Ecology of Fear. Metropolitan Books, New York 1998, 484 S.


Karawane zieht weiter
Nach Aufenthalt in über 40 Städten und Städtchen kehrte die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen auf ihrer letzten Etappe in Köln ein, wo auch ein Kongreß zum Rückblick und weiteren Vorgehen stattfinden sollte. Eine Ankündigung auf den Kongreß suchte man/frau selbst in liberaleren Gazetten wie taz oder Frankfurter Rundschau vergebens. Ob das an einer vernachlässigten Pressearbeit der VeranstalterInnen oder dem offenen Desinteresse der parteipolitisch assozierten Presseorgane lag, ließ sich nicht völlig klären. Klar ist jedoch, daß kurz vor der Bundestagswahl weder SPD noch Grüne auch nur in die Nähe des nicht gerade publizitätsträchtigen Themas kommen wollten.
Aber wie auch immer sich die ›freundliche Zivilgesellschaft‹ zu den Problemen der Flüchtlinge und MigrantInnen stellen sollte, wurde während des Verlaufs der Karawane und in den Beiträgen der meisten RednerInnen klar, daß die Erfolge der Karawane in ihrer Wirkung nach innen liegen. So bot sich für einige der in Sammellagern Internierten die Gelegenheit, diese über die Kreisgebiete hinaus zu verlassen und etwas anderes zu tun, als auf die drohende Abschiebung zu warten. An einigen Orten stärkte die Durchreise der Karawane die antirassistischen UnterstützerInnengruppen. Wichtiger vielleicht noch ist die intensivierte Zusammenarbeit der verschiedenen Flüchtlingsorganisationen wie dem world tamil movement, die afrikanische Flüchtlinge repräsentierende The Voice und verschiedenen türkisch-kurdischen Gruppen untereinander, sowie deren Zusammenarbeit mit den bundesdeutschen UnterstützerInnengruppen.
Daß die Repression nicht nur von außen kommt, bestätigten zwei Teilnehmer der Karawane selber. Am Vorabend des Kongresses gab es zwei voneinander unabhängige sexuelle Übergriffe, mit Vergewaltigungs- und Prügelandrohungen falls die Frauen die Übergriffe publik machen sollten. Die beiden Männer wurden aus der Karawanengruppe ausgeschlossen. Auf dem entsprechenden Plenum wurde die Absicht einiger Sprecherinnen deutlich, den Kongreß trotz der Übergriffe nicht ausfallen zu lassen.
Die Karawane will weiterziehen - wohin genau ließ sich dem, durch die Ereignisse des Vortages komprimierten Kongreß allerdings nicht entnehmen. In Planung ist ein eigenständiger Kongreß Ende des Jahres und die Vorbereitung eines weiteren Karawanensommers. Für die weitere Koordinierung wird es ein Treffen im März ´99 geben?

me


Raider heißt jetzt Twix
Im Februar '97 meldete die Berliner taz im Rahmen der Berichterstattung über das sich gerade formierende Innenstadtaktions-Bündnis eine bis dato unbekannte Form städtischen Handelns: eine Touristengruppe aus Hamburg war von ihrem Reiseführer getrennt und in sachkundiger eigener Regie für eine Großstadt-Safari mit einem ganz besonderen Abenteuer-Kick »entführt« worden: Als die derart Beglückten mit glänzenden Augen vom Pinkeln auf einer Junkie-Toilette zurückkamen und erregt nach mehr Authentizität verlangten, öffneten die AktivistInnen den Zugang eines leerstehenden Hauses. Die bei Anrücken der Ordnungshüter sich selbst überlassenen ErlebnistouristInnen machten laut Polizeisprecher keine Angaben zu ihrer Person und ihrem Motiv, sich in dem Gebäude aufzuhalten. Außerdemsei die Gruppe recht »untypisch für die autonome Szene« gewesen.
Typisch dagegen die Reflexion der AktivistInnen von der Berliner Architekturstudi-Gruppe »Freies Fach«: Ausgehend von einer Einschätzung, wie die »Touristengruppe sich in Berlin bewegen, welche Erwartungen sie stellen, wie sie Berlin sehen und wie Berlin sie sehen würde«, begriffen die MetropolenforscherInnen ihre Aktion als eine Art Versuch zur Überprüfung solcher Thesen. Die gemischten Gefühle ob des tragikomischen Ausgangs dieses Versuchs konnten schließlich mit der Annahme beruhigt werden, »dreißig Menschen von ihrer konsumierenden und stadtzerstörenden Rolle befreit und zu verwegenen und wilden Aktivisten gemacht zu haben«.
Jetzt haben die Veteranen der Kommunikationsguerrilla im b_books-Verlag einen »Freies Fach Reader zu Stadt und Sprache« herausgebracht.
Reader? Das Bändchen im Mini-Taschenbuch-Format ist gerade mal hundert Seiten dick und die dort versammelten 16 »Artikel« sind zwischen einer und elf Seiten lang. Der Bruch mit formalen Gewohnheiten wird auch inhaltlich produktiv: Dadurch, daß keine Textsorte eindeutig identifizierbar scheint und der Stil ständig zwischen Analyse, Essay, Aphorismus und Thesenpapier zur Förderung interdisziplinärer Verständigung oszilliert, gelingt eine Einführung in sehr verschiedene Aspekte der Stadtdiskussion in atemberaubender Geschwindigkeit. Da sieht mensch auch mal darüber hinweg, wenn flugs das goldene Zeitalter des Fordismus in die siebziger Jahre verlegt wird.
Rund um das quasi Lefèbvresche Generalthema ›Stadt als soziale Praxis‹ machen die Texte horizonterweiternde Ausfälle in die Richtungen Sprachpolitik, Trend, political correctness, Gebäudetechnik, Arbeit, Patriotismus, »Innere Sicherheit«, Standortvermarktungsstrategien, Biotechnik, Nachhaltigkeit, Sport und Demokratie, um mit einem Interview einer PR-Angestellten von Mercedes-Benz zu metropolenorientierten Werbeoffensiven zu enden.

Bodo Pallmer

Raider heißt jetzt Twix, Freies Fach Reader zu Stadt und Sprache, 106 S., DM 8.-, b_books, Berlin


Bourdieu, Lewontin, die Ideologie und ein Buch
Ich sag es gleich: der folgende Text ist eine Buchempfehlung und Bourdieu ist nicht der Autor des Buchs. Er hat aber höchst lesenswert geschrieben über die »Utopie des Neoliberalismus, die sich mittlerweile als wissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit zu gebärden versteht. Doch diese ökonomische Theorie ist eine bloße mathematische Fiktion.« Und es ist Aufgabe der Intellektuellen, so Bourdieu, diesem Gebaren entgegenzuwirken. Da hat er recht.
Die Tendenz von (vornehmlich mathematischen) Modellen, sich unter der Hand in Wirklichkeit zu verwandeln, ist aber keineswegs auf die Ökonomie beschränkt. Auch in der Biologie, der momentanen Königin der Forschung, gibt es entsprechende Tendenzen. Ganz im Bourdieuschen Sinne entzündet Richard Lewontin, Harvard-Professor für Genetik, in seinem Buch Biology as Ideology. The Doctrine of DNA ein Gegenfeuer.
Kann die DNA als Verursacherin menschlicher Krankheiten gesehen werden? Stimmt es, daß die Ertragssteigerung durch hybrides Saatgut eine Errungenschaft der modernen Genetik ist? Ist der Tuberkelbazillus die Ursache für Tuberkulose? Die Biologie ist bevölkert von kaum hinterfragten Fiktionen und das hat mehr System (in dem wiederum die Ökonomie eine Rolle spielt), als man den Fragen ansieht. Doch darüber lasse ich mich nicht aus, sondern empfehle schlicht das genannte Buch. Es ist teils verblüffend, es ist kenntnisreich geschrieben und es ist als schriftliche Fassung einer Radioserie angenehm lesbar (wenn auch nicht in deutsch erhältlich).

Johannes Lenhard

Richard Lewontin: Biology as Ideology. The Doctrine of DNA. Anansi, 1995, exakt 100 S. und für 11,95 $ erhältlich, den Flug nach Kanada nicht mitgerechnet.


Will meinen Club!
»Der grundsätzliche Unterschied - zu Karnevalsumzügen oder Love Parade - ist, dass schon bewusst war, dass es kein erlaubter Gang durch die Stadt war.« (Hans Romanov zur - damals noch illegalen - dritten Nachttanzdemo Lärm ’97)
Wurde auf der Nachttanzdemo letztes Jahr, zumindest offiziell, noch gegen »Ausgrenzung, Privatisierung öffentlichen Raums, gegen Sicherheitswahn und Rassismus« gelärmt, und eine Verbindung von Party und Politik gesucht, ist man dieses Jahr etwas bescheidener geworden: Den VeranstalterInnen des sich bislang stets immer von der Berliner Love Parade betont abgrenzenden alljährlichen Frankfurter Partyumzugs lagen diesmal die »Erleichterung der Genehmigungsverfahren« (für Partyveranstaltungen), die »Verkürzung der Behördenwege durch Zusammenfassung von Zuständigkeiten« und die »Errichtung einer zentralen Anlaufstelle ...« am Herzen. Was aussieht wie der Wunschzettel eines sich durch die Behörden gegängelt fühlenden Unternehmertums ist es auch.
Die Forderung nach selbstbestimmter (Wieder-)Aneignung öffentlicher Räume durch illegale Partys, jenseits von kommerziellen Zwängen, rassistischer Türpolitik und ordnungsamtlicher Gängelei, wurde diesmal in ihr Gegenteil verkehrt: Subjekt der Aneignung von Räumen sind nicht länger die tanzenden »party-people«, sondern Leute, die »ihren« Club, im Sinne eines bürgerlichen Eigentumstitels inklusive amtlicher Konzessionierung fordern.
Nachdem alle weitergehenden politischen Forderungen entsorgt waren, einigte sich das Vorbereitungsplenum der Demonstration immerhin noch auf eine radikale Ausdrucksform: Keinesfalls die vom Ordnungsamt ins Gespräch gebrachte Limitierung des Lärms auf 80 Dezibel akzeptieren. Aber auch diese Reminiszenz an Formen zivilen Ungehorsams fiel dem vorauseilenden Gehorsam des Verhandlungsführers gegenüber dem Ordnungsamt zum Opfer: Entgegen der Plenumsabsprache wurde einer amtlichen Einmessung der Soundsysteme auf 80 Dezibel zugestimmt, im Gegenzug verzichtete das Amt kulanterweise auf eine ständige Lärmmessung während der Demonstration.
Am Wunsch, seine eigene Kneipe oder seinen eigenen Club zu eröffnen, wäre an und für sich kaum etwas auszusetzen. Allerdings geht der politische Gehalt der Forderung nach Vereinfachung der Genehmigungsverfahren für Diskothekenbetriebe kaum über die Forderung der Fleischerinnung nach Vereinfachung der Bundeswurstverkaufsverordnung hinaus. Aber halt! Unsere PartymacherInnen sind natürlich keine profanen WurstverkäuferInnen. Sie bewegen sich vielmehr »an der Schnittstelle von Kunst und Party«, fordern folgerichtig auch die hochoffizielle Anerkennung durch das städtische Kulturamt. Aber darum geht es letztlich sowieso nicht, die Überstrapazierung des Kulturbegriffs dient offensichtlich nur mehr dazu, das partikulare Interesse, einen eigenen Gastronomiebetrieb zu eröffnen, als allgemeines auszugeben.
Waren bei den vorherigen Veranstaltungen, insbesondere aufgrund ihrer illegalen Form, noch subversive Praktiken der Aneignung städtischen Raumes herauslesbar, so wurde diesmal auf dieses Moment von vorneherein verzichtet. Entsprechend wurden nicht mehr die Anliegen der »party people« artikuliert, sondern die Club-Chefs in spe stellten ihren Forderungskatalog an das Ordnungsamt vor. Es geht also nicht einmal mehr dem Anspruch nach um die »temporäre Umnutzung« der dem Kommerz vorbehaltenen Innenstädte, sondern die »Off-Szene« fordert Starthilfe beim Eintritt in den Verteilungskampf um die bisher den etablierten Frankfurter Gastronomen vorbehaltenen Fleischtöpfe des Diskothekengewerbes. So heißt es in der Zeitung zur diesjährigen Demo auch folgerichtig: »... geht es ‘98 um fast schon die halbe Torte, dass heißt legale Anerkennung unseres [!] Kulturschaffens. La lutte culturelle nimmt ihren Lauf, bis wir genausoviel vom Kuchen haben wie die anderen.« Nachdem die Teilnahmegebühr an diesem ›Kulturkampf‹ mit einer ›Schanklizenz‹ von DM 250 dieses Jahr bereits schleichend eingeführt wurde, werden die Veranstalter nächstes Jahr sicher auf den immer unglaubwürdigeren Distinktionsgewinn gegenüber den Etablierten verzichten, so daß es dann gemeinsam heißen darf: Frankfurt sounds better with us!

Oliver Groß, Claus Weiland


Gegendarstellung
Zum wiederholten Male stellt sich die manufaktur vor im Rahmen einer Ausstellung...; nein eher kulturellen Veranstaltung...; um Gottes Willen; d.h. Event, transitorischen Vereinigung, ephemere Besetzung, translokative Überlegung...; nein, so geht es nicht weiter, wahrscheinlich aufgrund einer permanenten Arroganz gegenüber kulturellen Institutionen oder wie es so schön heißt, dem allgemeinen Kulturmanagement; nennen wir es einfach Ausstellung oder besser Gegendarstellung.
Das temporäre Bündnis von Künstlern, Dichterinnen und Denkern, Theoretikerinnen und Wissenschaftlerinnen gibt es nicht, solange sie nicht in die Öffentlichkeit treten. Unbekannte wie auch namhafte Künstlerinnen (»Zugpferde«), Kuratoren - vor allen Dingen die Kuratoren - sowie Thema und Name der Ausstellung fördern und bezeichnen die Repräsentation und dienen meist als Karrieresprungbrett/Positionierung im Kunst-»Establishment«. Voraussetzung dafür ist jedoch ein harmonierendes Anhängigikeitsverhältnis zwischen Künstler/Kuratorin, Gruppierung/Medien und Kurator/Kunstfördererin. Seit sich in den letzten Jahren die öffentliche Hand mit den Fördermitteln immer weiter zurückzieht, wird von den Kulturmanagern unisono eine veränderte Steuergesetzföderung für Kunstsubventionen verlangt. Das neue Finazierungsmodell gibt den wirtschaftsstarken Unternehmen und privaten Förderern die Gelegenheit, als kulturelle Retter zu agieren. Die Institutionen können sich, entgegen aller Abhängigkeitsverhältnisse, als »gleichberechtigtes« Unternehmensmodell repräsentieren. Die Grundlagen dafür zeichnen sich bereits in der Fußballwelt ab, in der sich die »Clubs« in Aktiengesellschaften umwandeln. Präsident, Manager, Trainer und sportlicher Leiter, vereinigt in einer Person, muß allerdings noch im unternehmerischen Kunstbetrieb die Arbeitsverhältnisse für den neuen Kunstproduzenten klären. Dem wird stets noch seine personelle Freiheit eingeräumt (Künstlermythos), d.h. jegliches Aufbäumen, polemische Kritik, Negation fördert das öffentliche Interesse und ist kalkulierter Bestandteil der Inszenierung. Die Kunstproduktion sollte sich allerdings in diesem leistungsgerechten repräsentativen Rahmen bewegen, ansonsten wird der Betriebsstörer verkauft, ausgewechselt oder er sitzt auf der Ersatzbank.
Diese Darstellung erscheint wie ein »Real-Zeit-System«, zeigt den Eindruck einer Kritik gegenüber dem Kunstbetrieb und ihrer Repräsentation und erweckt die Vorstellung eines Themas, das die manufaktur in der Ausstellung aufzeigen möchte. Doch der Verfasser kann keine Vorstellung, Darstellung und Gegendarstellung einer »Ausstellung« im Vorfeld repräsentieren, ohne sich selbst wieder in diesem System der Verklärung einzuschreiben. Dafür repräsentieren sich die Repräsentanten selbst vom 09.- 20. Dezember in der Saalgasse 24, Eröffnung 9. Dezember, 20.00h.

manufaktur


EXPO NO - denn die Welt sieht anders aus!
Im Jahr 2000 wird in Hannover die Weltausstellung EXPO 2000 stattfinden. Unsere Einschätzungen zur EXPO als groß angelegte Propagandashow und unsere Kritik an den Inhalten der dort vorgestellten Zukunftsentwürfe wollen wir allen Interessierten zur Diskussion stellen und diese auffordern, sich an der Neuformierung des Widerstands zu beteiligen. Das vierseitige Papier kann bei uns, einem offenen Anti-EXPO-Bündnis von Leuten aus der Umgebung von Hannover und Bremen, angefordert werden.
Wir laden alle interessierten Gruppen und Einzelpersonen zu einen bundesweiten Anti-EXPO-Treffen vom 11. bis 13. Dezember ‘98 in Hannover ein. Dieses soll sowohl dem unverbindlichen Meinungsaustausch und der Diskussion des weiteren Vorgehens dienen, als auch Möglichkeiten für vertiefende inhaltliche Diskussionen der in unserem Papier angesprochenen Themenbereiche bieten. Falls ihr Interesse habt, meldet Euch bitte bis zum 1. Dezember ‘98, damit wir planen können. Dann gibt es auch genaueres zum Ablauf des Treffens.

Kontakt:
Tipp-Ex. Treffen für Intergalaktische
Perspektiven gegen die EXPO;
c/o ASTA der Uni Hannover
Welfengarten 1; 30167 Hannover
Tel 0511/ 762-5061; Fax 0511/717441