Zur Lage der Kulturarbeitenden zwischen Kreation und Depression
Eine Abendunterhaltung mit Diedrich Diederichsen
Bei der ersten Nitribitt-Veranstaltung vor zehn Jahren ging es um prekäre Arbeitsverhältnisse. Wir stellten uns
damals die Frage, ob nicht das Bohème-Milieu mit Idealen wie "Autonomie" und "Selbstverwirklichung" im Grunde dem
neoliberalen Produktivitätsmodell zuarbeite. Ja, dass wir mit unseren Skills und nonkonformistischen Lebensweisen
in gewisser Weise als Minenhunde des "flexiblen Kapitalismus" fungierten.
Nun wollen wir uns mit den Arbeitsverhältnissen der "Kreativen" auseinandersetzen. Diedrich Diederichsen wird den
verschlungenen Pfaden der "Selbstverwirklichungspraktiken" nachgehen und deren Rückkopplungseffekte auf postfordistische
Organisationsformen und Produktionsweisen herausarbeiten. Besonders die Frage der Identifikation zur eigenen Arbeit spielt
dabei eine wichtige Rolle. Viele Kreative nehmen den Entfremdungsprozess, der sich aus ihren Arbeitsbedingungen ergibt,
weniger als Problem des "Systems", sondern vornehmlich als Problem ihrer individuellen Psychographie oder als "Schicksal"
wahr. Sie erleben das Verhältnis zwischen ihrem Wissen/Können und ihrer affektiv/psychischen Struktur als ständigen Umgang
mit sich selbst: Eine individuelle Bearbeitungsstrategie, die vor allem auf personalisierte Körpertechniken, Fortbildung,
Therapie etc. setzt und gegebenenfalls mit erheblichen materiellen und physischen Kosten verbunden ist.
Doch darüber braucht man viele Betroffene nicht aufzuklären, weil sie grundsätzlich darüber Bescheid wissen und häufig zum
"Lauf der Dinge" ein ironisches oder gar zynisches Verhältnis einnehmen: Shut up and Dance!
Das Problem scheint darin zu bestehen, dass "kreative Subjekte" viel Energie für die Bearbeitung ihres "Innenlebens"
verbrauchen, aber wenig Bereitschaft zeigen, sich "gesellschaftlich" zu engagieren. Die linke Kritik wiederum verfügt über
ein komplexes Wissen, was die kapitalistischen "Superstrukturen" anbetrifft, hat aber wenig Ahnung darüber, wie die
Subjektanrufungen auf der Ebene des (Arbeits-)Alttags konkret funktionieren.
Mit Diedrich Diederichsen wollen wir an dem Abend darüber diskutieren, ob sich die Idee der Selbstverwirklichung angesichts
postfordistischer Rekuperationsstrategien vollständig erledigt hat und wie man die Ware "Kreativ-Arbeitskraft" gegenüber den
Zumutungen des flexiblen Kapitalismus verteidigen könnte.
Donnerstag, 19. Januar 2012, 20 Uhr basis,
Gutleutstraße 8-12, 60329 Frankfurt am Main
> literatur >> Diedrich Diederichsen: Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. In: Menke, Christoph / Rebentisch, Juliane: Kreation und Depression. Freiheit im
gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010