flight 11:9 from genova to frankfurt

genua - der name dieser stadt steht als synonym für eines der wichtigsten und aufsehenerregendsten politischen ereignisse der letzten jahre in europa. während der drei fast schon mystisch verklärten tage des g8-gipfels im juli 2001 sowie in den debatten im vor- und nachfeld wurde die friedhofsruheundordnung der kapitalistischen zentren vorübergehend gestört, neue diskursive räume taten sich auf, sowohl der mainstream als auch die linke schienen in bewegung zu geraten. nach dem 11.9. sieht es so aus, als ob der gesamte komplex "genua" mit all seinen traumatischen erlebnissen und gewaltausbrüchen, vor allem aber mitsamt der damit verbundenen hoffnungen einer marginalisierten linken aus dem öffentlichen bewusstsein verschwunden sei. wir wollen dieses themenfeld aber nicht in vergessenheit geraten lassen und dokumentieren deshalb eine nachbetrachtung zum g8-gipfel aus post-11.9.-perspektive und einen augenzeugenbericht des polizeiüberfalls auf die scuola diaz.

gipfelfever

genua war in vielerlei hinsicht äußerst beeindruckend: allein schon die anzahl der protestierenden, die von donnerstag bis samstag zwischen 80- und 250.000 pro tag schwankte, war riesig und vermittelte den teilnehmenden ein gefühl der stärke. auffällig war zudem das sehr breite spektrum der protestformen, welches vom fröhlichen abtanzen auf der straße über "gewaltfreien" zivilen ungehorsam bis hin zu militanten aktionen reichte. das zusammenspiel dieser beiden faktoren machte es möglich, dass die situation für die staatsmacht in gewisser hinsicht außer kontrolle geriet. so konnten etliche freiräume entstehen, die von vielen aktivistinnen genutzt wurden, u.a. um banken, konzernfilialen, gefängnisse oder sexshops zu attackieren. dabei wurde ein für europäische verhältnisse ungewöhnlich großer sachschaden verursacht. allerdings wurden die temporär gesetzlosen zonen von einigen auch als einladung missverstanden, kaputtzumachen was kaputtging (kleinwagen, wohnhäuser). gewalt sollte jedoch nicht als selbstzweck, sondern als strategisches mittel im kampf gegen ein seinem wesen nach gewalttätigem system und für eine gewaltfreie gesellschaft gesehen werden, die ziele sollten bewusst ausgewählt werden. so ist zb das verteidigen gegen polizeiangriffe als legitim zu betrachten. für an das deutsche demo-reinheitsgebot (keine passive bewaffnung/keine vermummung etc.) gewöhnte war es verwirrend und begeisternd zugleich, mitanzusehen wie entschlossen dies in genua von den mit helmen, schildern und gasmasken ausgerüsteten demonstrantinnen praktiziert wurde. weniger schön war die vorher unvorstellbare repression, mittels derer der italienische staat ein kriegsähnliches szenerio schuf und somit die exzessive anwendung brutaler gewalt ermöglichte. keine weiß genau, wie viele tränengaspatronen abgefeuert wurden, keine weiß genau wie oft bullenknüppel zuschlugen, keine weiß genau wieviele menschen körperliche verletzungen und psychische traumata davontrugen, nur dass genau ein mensch getötet wurde, das ist sicher. genua war also ein einschnitt. zum ersten mal seit vielen jahren machte ein europäischer staat wieder deutlich, dass als gefährlich identifizierte angriffe gegen die herrschende ordnung auch in den metropolen mit der todesstrafe beantwortet werden (können). ziel der nicht außer kontrolle geratenen, sondern genau kalkulierten und der logik des kapitalistischen staates immanenten repression war die deutliche schwächung der bis dato von gipfel zu gipfel gewachsenen "bewegung". hierbei waren vor allem zwei effekte intendiert: zum einen sollte durch die beliebige anwendung von gewalt eine bedrohliche, angsteinflössende atmosphäre erzeugt werden, mittels derer die gipfelgegnerinnen von zukünftigen protesten abgeschreckt oder zumindest ihrer selbstsicherheit beraubt werden sollten. zum anderen sollte dem blackblock die schuld für die vorgeblich eskalierte bullengewalt zugeschoben werden, um die wut der angegriffenen "gewaltlosen" demonstrantinnen auf die militanten zu lenken und somit (nach dem motto "divide et impera") eine spaltung der "bewegung" zu erreichen. einige der globalisierungskritischen organisationen wie weed oder attac, die dem bereich der "internationalen außerparlamentarischen sozialdemokratie" zuzuordnen sind, haben sich daraufhin auch prompt vom militanten flügel der "bewegung" distanziert, während sie gleichzeitig die direkte und strukturelle gewalt des staates ausblenden.

die bilanz, die direkt nach den genueser gipfelprotesten in der linken und linksradikalen szene deutschlands gezogen wurde, konnte folglich aufgrund der vielen widersprüchlichen geschehnisse nicht durchgängig positiv ausfallen. hunderte verletzte und traumatisierte, ein toter, das fast schon militärische level der auseinandersetzung in italien sowie die im vorfeld des gipfels verhängten ausreiseverbote und die medienkampagne gegen die "unpolitischen gewalttouristinnen" verhinderten dies. aber trotz der genannten gründe, teilweise gerade deswegen, reihen sich die drei tage von genua ein in die chronik der gescheiterten gipfel, die von seattle über prag bis zu der gleich ganz abgesagten konferenz in barcelona reicht. statt der botschaft, die die g8 aussenden wollten ("wir und unser kapitalismus sind die größten wohltäter, sogar den ärmsten der welt helfen wir"), war in allen medien der protest und die gewalt der staatlichen polit[zei]hooligans vertreten. die beabsichtigte inszenierung der konferenz als treffen von klugen, gerechten und zupackenden sachwaltern der mehrheitsinteressen wurde also durchbrochen, bis hinein in die spießigste mainstream-öffentlichkeit konnte ein (natürlich verkürzt) kapitalismuskritischer diskurs platziert werden, neue räume für emanzipatorische politik schienen sich aufzutun. selbst in der deutschen linken machte sich zum ersten mal nach dem 89er-schock, seit welchem sich der kapitalismus weltweit als alternativlos präsentieren konnte und mit dem in der brd eine neue phase großdeutschen nationalismus einsetzte, ansatzweise optimismus breit. in internetforen wurde ein ende der langen politischen marginalisierung erhofft und von einem zweiten 68 respektive einer neuen massenbewegung geträumt. auch die militante linke wertete genua aufgrund des hohen sachschadens an zahlreichen symbolen des kapitalistischen systems und der großen anzahl gewaltbereiter aktivistinnen vorwiegend als erfolg. am leben erhalten wurde die hoffnung auf ein licht am ende des langen kapitalistischen tunnels, weil ende juli und beim global action day am 20. august erneut 100.000e weltweit auf die straße gingen.

eleven-nine

mitte august konnte sich noch eine userin bei indymedia in dem artikel "genova libera?" über das anfang juli gestreute gerücht, "dass sich extra für den g8-gipfel horden von islamischen selbstmordattentäterinnen in die luft sprengen", lustig machen. mitte september war das leider nicht mehr möglich... der offensichtlich antisemitisch motivierte massenmord von new york machte mit einem schlag die chancen auf eine in naher zukunft mögliche "bessere welt" zunichte, nicht nur frankfurt ist seitdem kälter und männlicher geworden. eine massive militarisierung nach innen wie nach außen fand und findet statt, angebliche grundrechte werden mit riesenschritten abgebaut, rassistische und/oder antisemitische ressentiments brechen sich bahn, kritik an den herrschenden zuständen wird kriminalisiert.

wie war dieser auf den ersten blick radikale umschwung in deutschland möglich? wie kann es sein, dass seit dem 11.9. ein reaktionäres projekt nach dem anderen realisiert wird, ohne dass die noch vor kurzem so präsente "bewegung" auch nur in teilbereichen öffentlichkeitswirksamen und effektiven widerstand leisten kann?

aufgrund von wenigen internationalen großereignissen, die in den bürgerlichen medien relativ stark präsent waren und in der gegenöffentlichkeit (zb indymedia) völlig gehypt wurden, konnte sich die deutsche linke den anschein von gesellschaftlicher relevanz herbei imaginieren. doch das war eine illusion, denn wie schon in einem papier des bundeskongreß entwicklungspolitischer gruppen mitte august richtig geschrieben wurde, stellt deutschland "in vielen punkten ein schlusslicht der internationalen protestbewegung dar". keine spur ist zu erkennen von breit angelegtem widerstand, kaum eine demo wird von mehr als 1000 teilnehmerinnen besucht. nur selten gelingt es, sei es durch kampagnen, proteste oder gezielte aktionen, mit linken/kapitalismuskritischen inhalten die masse der bevölkerung zu erreichen. eine ausnahme in der rhein-main-region stellt da nur das grenzcamp 2001 dar, welches es dank bundesweiter mobilisierung schaffte, für einige tage aufsehen zu erregen und größere kreise zu erreichen. äußerst erschreckend ist vor allem die kluft zwischen der dynamik und power der internationalen gipfelstürme und dem fast gänzlichen stillstand in den alltäglichen zusammenhängen, sei es nun in den unis, den stadtteilen, den betrieben oder den knästen. wo ist die bewegung wenn ich in bockenheim jeden tag an der deportationclass-filiale der lufthansa vorbeilaufe, wo ist die bewegung wenn im bahnhofsviertel hunderte frauen zur prostitution gezwungen werden, wo ist die bewegung wenn menschen tagtäglich ihrer stumpfen arbeit bei den farbwerken höchst nachgehen müssen? solange es die linke nicht schafft, in solche lokale und regionale soziale auseinandersetzungen zu intervenieren, also vor ort präsent zu sein und somit auch breiter bzw. tiefer angelegte strukturen aufzubauen, solange wird sie auch eine gesellschaftlich unbedeutende kraft bleiben. die revolution beginnt schließlich nicht, wenn zweimal im jahr in einer europäischen großstadt einige banken gesmasht werden, sondern führt über das stiften von unruhe und das skandalisieren der (zahlreichen) widersprüche in allen bereichen des bisher so geräuschlos dahin fließenden alltags. die gewalt, die der kapitalismus uns antut, sollte wieder von den konkreten lebenszusammenhängen aus thematisiert werden, womit auch nochnicht-linken kritik an den herrschenden verhältnissen besser zu vermitteln wäre. dadurch könnte die linke nach und nach wieder einen stärkeren rückhalt und eine bessere verankerung in der bevölkerung finden. somit wäre eine grössere kontinuität gegeben, was nicht nur als schutz vor staatlicher repression oder katastrophen wie dem 11.9. mit all seinen folgen hilfreich wäre. in diesem sinne: start the riot in your own little gemüsegarten!

blackblock/anarchafront/gipfelstürmerinnen in der sinistra