Der im folgenden in gekürzter Form dokumentierte Text entstammt einer Sammlung erst 1998 veröffentlichter Arbeiten zum Nationalsozialismus aus dem Nachlass Herbert Marcuses.

Er verfasste sie zwischen 1939 und1947 im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für das Office of War Information (OWI) und kurze Zeit später für das Office of Strategic Services (OSS), beides Unterabteilungen des amerikanischen Geheimdienstes. Die von diesem angeworbenen emigrierten Intellektuellen unterstützen den Kampf gegen Nazideutschland durch ihre Gesellschaftsanalysen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollten zum Beispiel der Entwicklung effektiver Formen der Gegenpropaganda dienen. Neben Marcuse arbeiteten aus dem Umfeld des Instituts für Sozialforschung zu dieser Zeit auch Franz Neumann und Otto Kirchheimer für das OSS. So trägt der hier vorliegende, bereits 1942 kurz vor Marcuses Eintritt fertig gestellte, Text „The New German Mentality“ den programmatischen Untertitel „Memorandum on a Study in the Psychological Foundations of National Socialism and the Chances of their Destruction“.

Unter der „neuen deutschen Mentalität“ versteht Marcuse natürlich nicht einfach die deutsche Variante dessen, was der Volksmund verkündet, wenn er etwa von der „ganz anderen Mentalität der Südländer“ bescheid zu wissen glaubt. Aus der Annahme eines deutschen Nationalcharakters, einer kulturgeschichtlichen Eigentümlichkeit, ist der Aufstieg des Nationalsozialismus, dessen ist sich Marcuse sicher, letztlich nicht zu erklären. Mit dem Begriff Mentalität ist hier, im Sinne eines kohärenten Denkmusters sowie kollektiver psychologischer Dispositionen, vielmehr der Niederschlag einer historisch spezifischen politökonomischen Konstellation anvisiert.

„Der bereits erwähnte ‚deutsche Charakter’ ist nicht die Vergegenständlichung einer besonderen natürlichen Eigenschaft, die dem ‚deutschen Menschen’ zukommt. Wir meinen damit, vielmehr dass das deutsche Volk im Verlauf seiner Geschichte und unter ihren spezifischen Bedingungen bestimmte Denkweisen und Gefühle entwickelt hat, in denen sich die der deutschen Kultur eigenen Charakterzüge niederschlagen.“

Im Zentrum jener „Haltung“, ein Terminus den Marcuse in einer Fußnote zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Mentalität vorschlägt, steht die „Rationalisierung des Irrationalen“, ein „Wechselspiel zwischen Mythologie und Technologie“, das selbst die Logik und Sprache des Nationalsozialismus, wie Marcuse darüber hinaus zu zeigen versucht, durchzieht. Der Nationalsozialismus nimmt den in der und durch die Zivilisation erzeugten anti-zivilisatorischen Impuls in seine Regie und macht diesen „zum Ferment der Aggression wie zugleich zu einem die Unterwerfung fördernden Therapeutikum“. Marcuse versucht dies am Beispiel der Verschiebung tradierter Tabus zu verdeutlichen. So wird die nazistische Enttabuisierung der Sexualität gleichzeitig zur Pflicht gegenüber einer rassistischen Bevölkerungspolitik. Dass sich die für den Nationalsozialismus charakteristische Hypostasierung der „Natur“ ohne weiteres mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals verträgt, hat Moishe Postone in seinem Aufsatz „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ nochmals im Hinblick auf die Historizität des Fetischcharakters zu erläutern versucht.

„ Wie angedeutet, läßt der „Doppelcharakter“ auf der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals lässt der „Doppelcharakter“ (Arbeits- und Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger „natürlicher“ handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum „parasitären“ Finanzkapital, als „organisch verwurzelt“.

Dass Marcuse auf die Shoah und die zentrale Rolle des Antisemitismus in seinem Text nicht explizit eingeht, macht ohne Zweifel dessen Schwäche aus. Gleichzeitig ist dies jedoch der Absicht geschuldet, solche Elemente der deutschen Mentalität in den Blick zu nehmen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus zuallererst ermöglichten. Im Fokus der Analyse steht eine Betrachtung des Nationalsozialismus, die selbigen nicht auf seine historischen Ausgangsbedingungen reduzieren will. Die Frage danach also, was Auschwitz zuerst möglich machte, stellt sich Marcuse, wie auch anderen Vertretern der Kritischen Theorie, als die triftigste, ohne darüber die Singularität des deutschen Vernichtungsprogramms und die Frage, wie dieses in seiner nationalen Spezifik wirklich wurde, ausblenden zu wollen. Es ist der Verdienst Goldhagens sich letzterer Frage erneut zugewandt zu haben, indem er die Shoah als „national german project“ thematisierte und auf die leidige Unterscheidung zwischen Führungsclique und „verführter“ Bevölkerung konsequent verzichtete. Damit eignen sich seine Analysen sozusagen auch als Kontrastlektüre, die einen immer wieder auf den Boden der brutalen Tatsachen zurückholt, als Kur gegen theoretische Reduktion, die schlimmstenfalls selbst zu einer Form psychischer Verdrängung zu werden droht.

Adorno und Horkheimer hatten hingegen ebenso wie Marcuse mit theoretischem Fernblick vor allem in der Dialektik der Aufklärung, an deren Formulierung sie in Kalifornien arbeiteten während Marcuse in Washington seine Feindanalysen schrieb, die Selbstzerstörung der Vernunft als allgemeine Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht. Die Vernichtung der europäischen Juden markierte für sie den objektiven Umschlag, den historischen Punkt, an dem diese Selbstzerstörung der Vernunft in Form ihrer barbarischen Aufhebung Realität wurde. Als Besonderheit des Allgemeinen verstanden, gibt der Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen somit Aufschluss über die barbarische Potentialität bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung und denunziert den vermeintlichen Normalzustand als einen, der immer schon auf dem Sprung ist. Eben daraus folgt der bekannte Imperativ Adornos, der die Möglichkeit einer Widerholung des Entsetzlichen nicht auszuschließen vermag.

Nicht minder pessimistisch fällt Marcuses Ausblick auf die postnazistische Gesellschaft aus, die mit den gesellschaftlichen Ursachen auch die Gefahr eines erneuten Rückfalls weiterhin mit sich führt: „Die Analyse der neuen Mentalität wird zeigen, dass [...] die Schlussfolgerung, die neue Mentalität werde zusammen mit dem Nationalsozialismus verschwinden, voreilig ist. Diese Mentalität entspricht nämlich einer gesellschaftlichen Organisationsform, die mit dem Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses ihre aggressivste Ausdrucksform darstellt.“ So verwundert es kaum, dass vielen Kategorien, die Marcuse am Studium des Nationalsozialismus gewonnen hat, auch in seinen späteren Arbeiten noch zentrale Bedeutung zukommt und einige nur wenig an Aktualität eingebüßt haben. Die Erläuterungen zur Verschiebung tradierter Tabus, durch die „die persönliche Befriedigung (ist) zu einer kontrollierten politischen Funktion und ihr gefährlicher Einfluss zu einer Kraft des inneren Systemzusammenhalts geworden“ ist, greifen zum Beispiel dem Begriff der repressiven Entsublimierung vor.

Marcuse war sich schon damals im klaren darüber, dass vor allem die dem deutschen Gemüt eigene zynische Sachlichkeit es der Gegenpropaganda nicht einfach machen würde, und es mehr bedurfte die Deutschen eines Besseren zu belehren, als des höflichen Hinweises, eine andere Welt sei möglich. Schließlich assoziierten die meisten Deutschen mit dem Nationalsozialismus auch nach 1945 noch in erster Linie Vollbeschäftigung und Autobahn.

Der Text „The New German Mentality“ ist im Amerikanischen bei Routledge im ersten einer auf sechs Bände angelegten Ausgabe mit unveröffentlichten Schriften aus dem Nachlass Marcuses erschienen. In Deutschland erscheinen die nachgelassenen Schriften im Zu-Klampen Verlag.

1) Herbert marcuse, feindanalysen, zu klampen, lüneburg 1998, s.36

2) Sehr ähnlich hat siegfried kracauer das wirken bestimmter kollektivdispositionen, die den aufstieg des ns begünstigten, im deutschen film aufzudecken versucht (siehe auch bilder, seiten 10 und 15, sinistra! 2003_01).

3) Moishe postone, nationalsozialismus und antisemitismus. Ein theoretischer versuch, in: d. Diner (hg.), zivilisationsbruch. Denken nach auschwitz, frankfurt a.m. 1988, s.249, 250

4) Herbert marcuse, feindanalysen, zu klampen, lüneburg 1998, s.28