Leiden und Emanzipation

Ein fragmentarischer Versuch


Da aber nach Smith eine Gesellschaft nicht glücklich ist, wo die Majorität leidet, da aber der reichste Zustand der Gesellschaft zu diesem Leiden der Mehrzahl und da die Nationalökonomie (überhaupt die Gesellschaft des Privatinteresses) zu diesem reichsten Zustand führt, so ist also das Unglück der Gesellschaft der Zweck der Nationalökonomie.

(Marx, MEW Bd. 40, 475)


Leiden am Selbst? Die vereinzelten entsubjektivierten Subjekte sorgen sich. Um die berufliche Zukunft, um Ziele im privaten Bereich und vieles andere. Immer wieder misslingt der Versuch, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, immer wieder scheitert man, erfüllt nicht die zum glücklichen Leben notwendigen Voraussetzungen. Wieder ist man krank, obwohl man sich doch durch teures Fitnessstudio und bewusste Ernährung so um die Gesundheit sorgt, wieder erreicht man ‚auf der Arbeit’ nicht die geforderte Norm, einem beruflichen Aufstieg und dem dazugehörigen Leben ohne materielle Sorgen steht die eigene Unfähigkeit im Wege. Und selbst in der heterosexuellen Zweierbeziehung klappt nichts wie es soll. Den Bedürfnissen von Partner oder Partnerin wird man nicht gerecht, die eigenen Wünsche bleiben unerfüllt. Leiden am Selbst also, Leiden an der eigenen, individuellen, die Zufriedenheit verhindernden Unfähigkeit? In diesem Fragment soll gezeigt werden, dass Leiden unter den gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen eine objektive Kategorie darstellt, da jene ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben verunmöglichen. Damit liegen Versuche, das Leiden aus dem Subjekt heraus zu erklären, falsch. Mehr noch: durch die Individualisierung des Leidens stärken sie die bestehenden Verhältnisse, da sie die Notwendigkeit von Kritik verschleiern. Ohne Kenntnis vom Leiden gibt es auch keinen Widerstand. So gehört es auch „zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten.“ (AGS4, 70)

Im Begriff des Leidens verschränkt sich die Möglichkeit des Erkennens der gesellschaftlichen Unfreiheit in ihrer Negativität in der Reflexion auf die Objektivität der Beschädigung des Subjekts mit derjenigen, in der vergesellschafteten Gesellschaft noch ebenfalls negativ an der bestimmten Negation der Unfreiheit, an der „versöhnten Gesellschaft“ (Adorno) festzuhalten, auch wenn die negative Dialektik des fortwesenden Unwesens genau die Position der bestimmten Negation in dieser Bestimmtheit nicht zulässt. „Einzig die konkrete Gestalt der Unfreiheit und die wechselnden Gestalten der Repression geben das Muster der negierenden Freiheit als des Gegenbilds zum Leiden im Zwangszusammenhang und bestimmen den Modus des Widerstands“ (Böckelmann 1998, 24), welcher in Zeiten der Selbstabwicklung des Geistes darin besteht, die Reflexion um so mehr zu schärfen und zu insistieren, dass Leiden kein rein subjektives Moment ist. „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt“ (AGS6, 29). Etymologisch wird die Bedeutungsverschiebung des Wortes Leiden von »weggehen« hin zur heutigen Bedeutung unter dem Einfluss des präfigierten »erleiden«, welches als »erfahren« gedeutet wird, konstatiert (vgl. Kluge 1999). Gerade in diesem historischen Zusammenhang von Leiden und Erfahrung liegt der logische – sowie die epistemologische Voraussetzung, dem Leiden zum Ausdruck zu verhelfen. Um dies zu verdeutlichen, muss kurz der Begriff der Erfahrung in Hinblick auf dessen Stellung in Adornos Reflexionen konkretisiert werden. Am deutlichsten wird dies in den Aphorismen der Minima Moralia, als deren Untertitel »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« Adorno nicht ohne Grund wählte. Sie sind die Reflexion auf die Übermacht des Objektiven in den einfachsten Gegenständen und Handlungen, in denen die Zweckrationalität in instrumentelle Vernunft umgeschlagen ist. Erfahrung bedeutet darin, dass nur dort welche gemacht werden kann, wo es einen Überschuss über die Zweckrationalität gibt, und dieser Überschuss des Dinges oder der Handlung reflektiert werden kann. „Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen. Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“ (AGS4, 44). Andererseits kann auch ein zuviel an überschüssigen Reizen Erfahrung verhindern. In Bezug auf Bombeneinschläge im Krieg sagt Adorno, dass „mit jeder Explosion, […] er den Reizschutz durchbrochen [hat], unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen“ (ebd., 60). Erfahrung kann nur stattfinden, wenn es einerseits einen Überschuss über die reine Zweckmäßigkeit gibt und andererseits die Möglichkeit der Reflexion und Verarbeitung besteht. Auf die Erfahrung der Unfreiheit und des Leidens bezogen heißt dies, den durch die Objektivität erzeugten Friktionen im Subjekt auf dem Wege der gedanklichen Rekonstruktion auf die Spur zu kommen. Dies gelingt demnach nur, wenn Leiden überhaupt noch erfahrbar ist, d.h. das Subjekt weder vollkommen der Produktivierung nach Maßstäben der instrumentellen Vernunft unterworfen, noch durch permanente Schockzustände – übertragen auf kulturindustrielle Erscheinungsformen kann dies vielleicht mit der permanenten Steigerung von „sensationellen“ Events analogisiert werden, zwischen denen paralysierende Langeweile sich breit macht und damit das Subjekt auch einer unzusammenhängenden Folge von Schocks unterworfen wird – überfordert wird.

Genau hier liegt der Fehler von Herrmann (2001), denn auch wenn es richtig ist, dass Leiden dort erfahrbar wird, wo in der Vermittlung des Objektiven im Subjekt Friktionen sich erzeugen, so liegt dies dennoch weder ausschließlich an einem normativen, reinen Zeichensystem noch kann es als »Leiden am selbst« (so der Titel des Artikels, Hervorhebung FK) bezeichnet werden, da das Leiden genau aus der Übermacht des Nicht-selbst herrührt und durch jene Übermacht das Selbst, jene Momente der Freiheit des Subjekts, zum Nichtidentischen wird, welches von der historischen Dynamik des objektiven Zwangszusammenhangs abgeschnitten zu werden droht, dass also „in der Vorgeschichte die objektive Tendenz über den Köpfen der Menschen, ja vermöge der Vernichtung des Individuellen sich durchsetzt (...)“ (AGS 4, 15). Auch wenn in dem Artikel richtigerweise als ein zentrales Moment des Leidens die kapitalistische Arbeit benannt wird, so vollzieht er einen idealistic turn und setzt das Individuum als sich selbst betrachtendes autonomes, abgekoppelt von der Gesellschaft. Doch das bürgerliche Subjekt ist nur negativ bestimmt zu haben und zugleich schon als Form zutiefst gesellschaftlich, ist Teil der objektiven Tendenz als hervorbringendes und unterworfenes.

Die innere Dynamik jener objektiven Tendenz, der verselbständigten Strukturen, der geronnenen sozialen Verhältnisse in zu den Menschen gegenübertretenden Formen, in denen sich die Widersprüche bewegen können (vgl. MEW 23, 118.), meint nun nicht eine teleologische Bewegung, die ihren Anfang in einem historisch dinghaften Konstituens hätte. „Es kann daher nur als Bewegung und nicht als ruhendes Ding begriffen werden“ (MEW 24, 109). Es ist ein permanenter Prozess, der prinzipiell (also auf der logischen Ebene) Möglichkeiten in sich trägt, das Nichtidentische zu bewahren oder gar zu stärken, aber nur dort, wo geistig-praktischer Widerstand qua subjektiver praktischer Reflexion geleistet wird. „Während Theorie aus dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß nicht herausoperiert werden kann, hat sie in diesem auch Selbständigkeit; sie ist nicht nur Mittel des Ganzen sondern auch Moment; sonst vermöchte sie nicht dem Bann des Ganzen irgend zu widerstehen“ (AGS 10.2, 780f.).

Praktisch-theoretische Kritik muss jene Dialektik von Theorie und Praxis in sich aufnehmen, sich der Objektivität des Subjektiven bewusst sein; dem Leiden zum Ausdruck zu verhelfen bildet daher einen Kern der Kritik der Totalität. D.h. dass Theorie die Möglichkeit des Widerstehens immanent ist. Es wird der Unterschied zu einer kulturkonservativen (und damit verfälschenden) Interpretation Adornos deutlich, welche eben genau eine Teleologie des „es wird immer schlimmer“ am Werk sehen will. Es ist schlicht falsch, das tagtägliche (bewusstlose) Erleiden des übermächtigen Immergleichen, der ‚Künstlichkeit’ der nach dem Wert geformten Welt zuzuschreiben und als Konsequenz sich rückwärts dem „Versprechen der Unmittelbarkeit“ (AGS 10.1, 17) zuzuwenden. Solche rückwärtsgewandte Sehnsucht findet sich zuhauf in den „x ist keine Ware“-Vorstellungen, die das Leid der Menschen rein auf das Geld, und besonders die fetischhafteste Form des Zinses, schieben nicht aber auf die Art der Vergesellschaftung welche Geld als ihren Ausdruck hervorbringt. Dies bewusstlose Agieren verdoppelt daher das Bestehende, schaltet die Reflexion ab und schneidet zugleich die (negative) Antizipation des möglichen Anderen ab. Darin spiegelt sich die gegenwärtige objektive Möglichkeit jenes Anderen wider, indem performativ der historische Stand der Verobjektivierung der Subjekte sich zeigt. Die Krise des gegenwärtigen Kapitalismus, in der die „äußerliche Verselbständigung der innerlich Unselbständigen“ (MEW 23, 127) so weit vorangeschritten ist, dass sich „die Einheit gewaltsam geltend“ (ebd., 128) macht, führt im blinden Prozess zu einer sozialen Fragmentierung und gleichzeitig zu einer umfassenden Integration und Produktivierung des Subjekts. Die Verarbeitung der Krise geschieht auf der Basis des Grades der Vergesellschaftung und damit Verdinglichung des Bewusstseins der Subjekte. Wird Krise als dauerhafte Instabilität der Kapitalakkumulation gedeutet, in der gleichzeitig eine Krise sowohl der politischen als auch der Subjektform liegt – also nicht im Sinne einer Basis-Überbau Metaphorik, die letztere als dem Ökonomischen nachgeordnet deutet, sondern als in sich vermittelt –, so bedeutet dies eine dauerhafte Instabilität eben auch der politischen und der Subjektform. Dieser inneren Erschütterung der geronnenen Formen in der Krise wird mit Versuchen begegnet, der Akkumulation wieder Stabilität zukommen zu lassen. Gegenwärtig passiert prozessual eine innere Landnahme des Subjekts, d.h. nicht nur ‚äußerlich’ findet eine Autoritarisierung statt, sondern die Repression wird als das positive Projekt der Flexibilisierung in die Subjekte verinnerlicht. Der Triumph der Zweckrationalisierung aller Bereiche des Lebens bei gleichzeitiger Hervorbringung neuer Schreck- und Panikbedingungen verunmöglicht tendenziell die Erfahrung des Leidens. Doch mehr noch: die Verhinderung der Erfahrung des Leidens und damit die Möglichkeit von Aufklärung und (theoretisch-praktischer) Kritik bedeutet heute gleichzeitig die Produktion der staatshörigen entsubjektivierten Masse, die bereitwillig darauf wartet, zum Exekutor der Barbarei zu werden. „Der Mensch, von Staats wegen nicht als Individuum, sondern als Subjekt betrachtet, hat zwischen sich als Naturding einerseits und als Gesellschaftswesen andererseits kurzzuschließen und – darin besteht das Wesen der Panik – den politischen Souverän als das Selbstbewusstsein seiner leiblichen Not in sich zu installieren“ (Bruhn 2004). Herrschaft verfestigt sich auf erweiterter Stufenleiter. Daraus folgt, dass es sich einige postoperaistische AutorInnen um einiges zu einfach machen, wenn sie in den ‚neuen’ Arbeitsverhältnissen, der immateriellen affektiven Arbeit und ihren kommunikativen Imperativen, den Keim des Kommunismus zu erblicken glauben. Stattdessen wäre zunächst zu fragen nach dem Grad der Verobjektivierung des diese Arbeit verrichtenden Subjekts. Wie festgestellt, liegt darin eine Produktivierung und innere Landnahme des Subjekts, somit die Tendenz der gesellschaftlichen Verunmöglichung von Erfahrung. Wird dies nicht berücksichtigt, feiert eine Apologie des ‚Volkes’ fröhliche Urständ´, wird das Bestehende noch in eine (pseudo-)Utopie perpetuiert. Das Dunkle Bewusstsein verdunkelt sich selbst ein zweites Mal. Emanzipation wäre genau das Gegenteil.

Um an der Emanzipation festzuhalten, müssen daher diejenigen Orte verteidigt und ausgebaut werden, in denen mensch sich nicht dumm machen lässt, d.h. weder von den Schockereignissen überfahren lässt noch jeden Gedanken schon vor dem Denken auf Tauglichkeit und Verwertbarkeit hin überprüft. Praktische Theorie und theoretische Praxis sind demnach auszurichten auf die Aufgabe, das Leiden beredt zu machen und damit die Möglichkeit der Überwindung der Wertvergesellschaftung und ihres immanent produzierten Leidens, bei dem es sich keineswegs um ein klassenspezifisches handelt, festzuhalten.

Während Marx den gemeinsamen Kampf von Philosophie und Proletariat forderte – „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistige Waffen (...) Der Kopf dieser Emanzipation [des Menschen FK] ist die Philosophie, ihr Herz ist das Proletariat“ (MEW 1, 391) – stand Adorno der ArbeiterInnenbewegung eher skeptisch gegenüber. Positive Bezüge auf dieses sucht man in seinem Werk vergebens. Das Scheitern der proletarischen Revolutionsversuche indes markiert den archimedischen Punkt der Befreiungstheorie Adornos, welche reflektiert, dass diejenigen, die die „Waffen führen werden“ (MEW 4, 468), welche dem Kapitalismus das Ende bereiten sollten, die Waffen lieber gegen die Jüdinnen und Juden einsetzten. „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“ (AGS6, S. 15). Der Eingangssatz zur Negativen Dialektik verweist auf die Schwierigkeit, an Befreiung festzuhalten, während es kein revolutionäres Subjekt (mehr) gibt. Dem „Volksvermögen“ traute er (offensichtlich richtigerweise) „nur das Schlimmste zu“(Steinert 1993, 178).

Hatte sich durch Herrschaft und Unterdrückung, durch die Einrichtung der kapitalistischen Tauschwirtschaft eine Sphäre herausgebildet, in der einige wenige Menschen von den Zwängen der unmittelbaren Arbeit zur eigenen Reproduktion freigestellt waren und dort noch am ehesten die Möglichkeit zu Muße, intensiver und reflexiver Beschäftigung mit einem Gegenstand sowie zur Schaffung von Kunst bestand, in welcher dem Leiden zu seinem Ausdruck verholfen und über die bestehenden armseligen Verhältnisse hinausgewiesen werden konnte, so stellt sich die Frage nach einem solchen Ort, an dem die Schaffung von Kunst, die ihrem Begriff gerecht wird, heute neu.

Denn Kunst als in sich gesellschaftlich vermittelte hat nach Adorno einen Doppelcharakter: sie ist zugleich fait social und autonom (vgl. AGS7, 334ff). Sie ist gesellschaftliches Produkt und von den herrschenden Verhältnissen nicht ablösbar. Sie ist eine Ware, wenn auch eine paradoxe (AGS3, 184), auch die KünstlerInnen bewegen sich innerhalb der schlechten Verhältnisse und können nicht unabhängig von diesen werkeln, auch sie sind der „Schmach des Geldverdienens“ (AGS4, 21) unterworfen, sofern sie nicht von Hause aus über welches verfügen. Auf der anderen Seite aber haben sie durch den spielerischen und damit tendenziell kritischen Umgang mit ihrem Gegenstand am ehesten die Chance auf „das Gelingen der Subjekt-Objekt-Dialektik“ (Steinert 1993, 204), darauf, wirkliche Erfahrung zu machen. Kunstwerke können so eine Idee der Befreiung bieten und durch ihre Zwecklosigkeit über das von der Zweckmäßigkeit geprägte Bestehende hinausweisen. Dazu müssen sie rebellieren gegen ihren Sinn (vgl. AGS12, 121), banale Kunst, banale Musik ist herrschaftskonform, trägt bei zur bürgerlichen Ideologie des ‚Es ist wie es ist’, lässt die Verhältnisse nicht als hinterfragbare begreifen. Kunst trägt Geschichte und damit vergangenes Leiden in sich. D.h. sie hat die Möglichkeit das „Übermaß an realem Leiden“ in sich aufzunehmen, ihm Ausdruck zu verleihen oder als sein Sprachrohr zu fungieren, sein Vergessen zu verhindern. Kunst erkennt das Leiden und hat damit Erkenntnischarakter. Zöller stellt richtigerweise fest, dass Kunst „die objektive Gestalt des Bewußtseins von Leiden“ ist (vgl. Zöller 2004, 208). „[K]aum wo anders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete“ (AGS11, 423). So bietet sie die Chance des Leiden als objektive Kategorie zu erkennen – ein erster aber immens wichtiger Schritt auf dem Beschwerlichen Weg zu seiner Abschaffung.

Kunst ist immer erst einmal fremd, sie verlangt von der Betrachterin Aufmerksamkeit, sie muss sich auf es einlassen, versuchen ihm gerecht zu werden, nicht ihre Gedanken auf es projizieren. Und das ist gut so, denn das „Ich bedarf, damit es nur über ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht des Zerstreuung sondern der äußersten Anspannung“ (AGS7, 364). Das Kunstwerk fordert die Menschen heraus, weiter zu schauen als bis zum eigenen Gartenzaun, zeigt dass es noch weiter geht, dass es noch mehr gibt als das bekannte Immergleiche. „Kunst achtet die Massen, indem sie ihnen gegenübertritt als dem, was sie sein könnten, anstatt ihnen in ihrer Entwürdigenden Gestalt sich anzupassen“ (ebd. 356). Kunst steht für das, was die Menschen sein könnten, wenn sie nicht „das Spiel der falschen Humanität, des sozialen Einverständnisses mit der Entwürdigung des Menschen“ mitspielten (AGS11, 125). So nimmt beispielsweise die Neue Musik gesellschaftliche Widersprüche in sich auf, verweigert sich dem unhaltbar gewordenem „Trug der Harmonie“ und erhellt die „sinnlose Welt“ durch ihre Unverständlichkeit; ihrer Schönheit hat sie demnach davon, dass sie dem Schönen sich versagt (vgl. AGS12, 124ff). So verhilft sie dem gesellschaftlichen Leiden zu seinem Ausdruck, so kann dieses durch jene bewusst gemacht werden.

Diese Kraft der Erkenntnis liegt im Kunstwerk selbst begründet, sein politischer Gehalt kommt aus ihm selbst, hat mit der Position der Künstlerin wenig zu tun, ihr Zusammenhang ist ein zufälliger. So ist es möglich, dass selbst konservative Künstlerinnen in der Lage sind, mit ihren Werken – bewusst oder unbewusst – Kunst zu revolutionieren und neue Möglichkeiten der Befreiung aufzuzeigen. Doch auch wenn er die „Parteiischkeit“ als Tugend der Kunstwerke bezeichnet, spricht sich Adorno gegen politisch sich gebärdende Kunst aus, da diese vorgaukele, man könne innerhalb der irrationalen Verhältnisse mit rationalen Argumenten vernünftige Debatten führen. „Sie will, dass die Kunst unmittelbar zu den Menschen spreche, als ließe sich in einer Welt universaler Vermittlung das Unmittelbare unmittelbar realisieren“ (AGS11, 120). Doch ihre Wirkung besteht in der Erinnerung, im über die selbstgesetzten Schranken hinausweisen, nicht im direkten politischen Eingriff. Kunstwerke die dies dennoch versuchen, pflegen „unter ihren Begriff zu gehen“ (AGS7, 359). Nonkonformismus ist hier zu verstehen als Konsequenz aus der Feststellung der Unmöglichkeit der Diskussion mit gemeinsamen Begriffen. Das Fehlen einer Möglichkeit der Übereinstimmung mit den VertreterInnen der herrschenden Verhältnisse bewirkt diese Haltung, nur durch sie vermeidet man, das ‚Spiel des Gegners’ mitzuspielen (vgl. Diedrichsen 2003, 122f).

Letztlich sei noch kurz eingegangen auf Adornos berühmten und oft Zitierten Ausspruch aus Kulturkritik und Gesellschaft, dass nach Auschwitz das Schreiben eines Gedichts barbarisch sei (vgl. 10.1, 30). Zum einen revidiert er diesen Satz in der Negativen Dialektik, wenn er folgendes ausführt: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (AGS 6, 355). Vielmehr stelle sich das Problem, ob nach Auschwitz sich überhaupt noch leben lasse. Zwar sei alle „Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran (...) Müll“ (ebd., 359), da alle Kultur die Barbarei nicht verhindern konnte und auch die Mörder in den Konzentrations- und Vernichtungslagern von den schönen Künsten sich beglücken ließen. Zwar ist Kultur spätesten seitdem schäbig und schuldhaft, doch sich ihr zu verweigern bedeutete, unmittelbar die Barbarei“ zu befördern, „als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus“ (ebd., 360). Am Begriff von Kunst und Kultur ist nach Adorno kritisch festzuhalten, denn allein in diesen lässt die Möglichkeit des anderen, Nicht-Identischen sich als Flaschenpost aufbewahren, allein diese haben die Chance, der totalen Vergesellschaftung sich zu verweigern.

Eine emanzipatorische Kritik der Totalität muss sich daher des objektiven Leidens bewusst sein und eine Möglichkeit finden, dieses zu artikulieren. Gerade die Orte, an denen noch, wie marginal auch immer, Muße und Zeit zu finden sind, als Voraussetzung der kritischen Reflexion, sind zu verteidigen, mit dem Ziel, soviel Utopie sei gestattet, eben die Möglichkeiten der Muße zu verallgemeinern. Allerdings muss immer eingedacht werden, dass jene Möglichkeiten im Kapitalismus nur dort bestehen, wo die Menschen vom Zwang der Lohnarbeit, zumindest teilweise, befreit sind. Dies bedeutet immer, eine privilegierte Position innezuhaben, sei es als Künstlerin, als Studentin etc. Diese Privilegierung drückt sich nicht nur in Reichtum an Geld aus, sondern eben in einem höheren Maß an verfügbarer Zeit. So ist immer die eigene gesellschaftliche Position zu reflektieren in den Versuchen der Kritik des Bestehenden und in dem Versuch der Dissidenz und Verweigerung gegenüber dem Diktat der instrumentellen Vernunft. Ansonsten droht deren Perpetuierung.

Gruppe Frankfurter Kranz



Literatur:

Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bände 3, 4, 6, 7, 10.1, 10.2, 11, 12 (zitiert als AGS)

Böckelmann, Frank 1998: Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie, Freiburg i. Brsg.

Bruhn, Joachim 2004: Der Schreck, in: Jungle World 44 - 20. Oktober

Diedrichsen, Diedrich: Wege des Nonkonformismus – von Adorno zu Ally Mc Beal, in Alkemeyer u.a. 2003 (Hg.): Aufs Spiel gesetzte Körper, Konstanz

Herrmann, S. 2001: Leiden am Selbst, in: Zeitung der Linken Liste Uni Frankfurt, www.copyriot.com/lili

Kluge, Friedrich 1999: Etymologisches Wörterbuch, Berlin, New York

Marx, Karl: Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1

Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4

Marx, Karl: Das Kapital Bd. I, in: MEW 23

Marx, Karl: Das Kapital Bd. II, in: MEW 24

Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40

Steinert, Heinz 1993: Adorno in Wien, FfM

Zöller, Thomas 2004: Leiden als Vermittlungskategorie von Subjekt/Objekt, in: Becker/Brakemeier (Hg.): Vereinigung freier Individuen, Hamburg