Die Gegenwart der Vergangenheit

Über Erinnern und Vergessen des National-sozialismus in der Berliner Republik


Diskussionsveranstaltung zu Geschichtsrevisionismus und Erinnerungsdiskurs

Vortrag von Dr. des. Samuel Salzborn (Uni Gießen)

Donnerstag 16.12.2004 | 19 Uhr

KoZ | Studierendenhaus | Campus Bockenheim | Uni Frankfurt | Mertonstr. 26-28



Martin Walsers Paulskirchenrede von 1998 markierte den Anfang eines neuen Erinnerungsdiskurses, einer neuen Form des Gedenkens der Deutschen in der Ber­liner Republik an die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialis­mus. Walser brachte das Unbehagen vie­ler Deutscher zum Ausdruck, das aus der eigenen historischen Schuld resultiert, sich aber nur gegen vermeintliche Vorhaltun­gen dieser Schuld, also Erinnerungen an die Verbrechen selbst, richten kann. Es sollte endlich Schluss sein mit der ewigen Erinnerung an die „Schande“ der Deut­schen.

Fünf Jahre später haben sich die zentralen Koordinaten des geschichtspolitischen Denkens in Deutschland grundlegend ver­schoben. Der Holocaust wurde 1999 im Krieg gegen Jugoslawien zur Legitimati­onsfigur eines Angriffskriegs, indem Auschwitz kurzerhand ins Kosovo expor­tiert wurde. Mit der erfolgreichen Abwick­lung der Entschädigungsansprüche der Überlebenden durch die Zahlung gering­fügiger Almosen aus dem Fonds der Stif­tung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ wurde der lang ersehnte Schlussstrich praktisch vollzogen. Im Erinnerungsdis­kurs der Deutschen, die sich endlich wie­der positiv auf die eigene Nation, das eigene Volk beziehen wollten, konnte jetzt durch eine mit dem Gestus des Tabu­bruchs inszenierte Thematisierung der Deutschen als Opfer die eigene Täter­schaft relativiert werden. Die nationalsozi­alistischen Verbrechen werden zwar nicht geleugnet, doch durch die Stilisierung der Deutschen als Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung universalisiert und so ein­geebnet und entsorgt. Derweil bestehen die historischen Bedingungen, die Ausch­witz zeitigten, freilich fort und in der Berli­ner Republik ist offener Antisemitismus immer mehr eine wieder frei gegebene Sprechoption des nationalen Bewusst­seins – wie die Fälle Möllemann und Hohmann zeigen –, während National- und Sozial­demokraten zumindest in Sachsen gleich große Wählermengen begeistern.

Auch an der Uni Frankfurt drängt die posi­tive Identifikation mit dem vermeintlich Eigenen zum Schlussstrich unter die Ver­gangenheit. Wer den schönen Campus am IG Farben-Haus ungestört genießen will, muss das Haus von seiner spezifi­schen Geschichte reinigen, wie die Unileitung, die sich gegen eine Umbenennung des Grüneburgplatzes in Norbert-Wollheim-Platz stellt und damit das Gedenken an den ersten Kläger gegen die IG Farben unterdrücken will. Oder wie das stu­dentische Kulturzentrum (Kuz), das am 20. April 2004 – Hitlers Geburtstag – Thor Kunkel zu einer Lesung aus seinem geschichtsrevisionistischen Roman „Endstufe“ ins IG Farben-Haus einlud, verknüpft mit der Vorstellung, so „Ort und Tag diskursiv neu zu beset­zen“. Der Ort, der einst als Zentrale des IG Farben-Konzerns gedient hat, der maß­geblich an den Verbrechen von Auschwitz beteiligt war, wird so vom Kuz zur Bühne für Geschichtsrevisionismus und neues deutsches Selbstbewusstsein bereitet. Grund genug für den AStA die kritische Auseinandersetzung mit dem NS zu forcieren und zu einer öf­fentlichen Diskussionsveranstaltung ein­zuladen, in der der Themenkomplex Ver­gangenheitspolitik und Erinnerungsdiskurs noch einmal grundlegender beleuchtet werden soll, um sich über mögliche Impli­kationen für die Situation an der Frankfur­ter Uni und anderswo Gedanken zu machen.

Dazu veranstaltet der AStA eine Diskussionsveran­staltung mit Dr. des. Samuel Salzborn (Uni Gießen), Mitautor des Buches „Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Geschichtspoliti­sche Wege ins 21. Jahrhundert“, der in seinem Vortrag die Dimensionen des geschichtsrevisionistischen Diskurses skizzieren und zur Diskussion stellen wird, am 16. Dezember 2004 um 19 Uhr im KoZ am Campus Bockenheim