Toni Arnold24.April.2000

Habermas und das System

Eine Ergänzung zur Zivilgesellschaft

Viele Seiten hat er dank üppig fliessenden Steuergeldern geschrieben; wie bei den meisten Vielschreibern wird sich auf jedes Argument ein Gegenargument in seinem Blätterwald finden lassen. Wenden wir uns also ab von seinen grossen Werken und zu einem Text, der nicht ein Seitenmengen- sondern ein wirklich theoretisches Problem berührt: die Sozialwissenschaften und die Logik: "Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno", erschienen 1972 im Kiepenheuer & Witsch Verlag, also zu einer Zeit, als Habermas noch nicht das absolute Kritikmonopol in der wissenschaftlichen deutschsprachigen Öffentlichkeit innehatte und sich daher beim Schreiben noch bemühen musste.

Daselbst grenzt Habermas den von Hegel - ohne Marx! - hergeleiteten Begriff der Totalität aus der kritischen Theorie vom umfassenden Gesellschaftssystem, begriffen als umfassender funktionaler Zusammenhang, ab. Er macht vier Unterschiedungen:

Dann gelangt Habermas zum Problem der Wertfreiheit auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Normen, zwischen Erkenntnis und Entscheidung. Nur ersteres ist nach Popper das Geschäft der Wissenschaft. Poppers offene Gesellschaft basiert damit auf einem Dilemman: sie macht sich zur Voraussetung, dass alle Individuen sich entscheiden, ihre Argumente auf Tatsachenbehauptungen zu stützen, was selbst jedoch nur normativ begründet werden kann. (S. 301) Dies mündet in einer Verpflichtung zu sozialtechnisch korrektem Verhalten.

Anschliessend referiert Habebrmas weiter Popper und kommt zum Schluss, dass die Gültigkeit von Basissätzen als Resultat eines sozialen Verhandlungsprozesses in einer (wissenschaftlichen) Gruppe (S. 306) gesehen werden muss. Diese ist eingebettet in das soziale Ganze und reproduziert dessen Funktionsweise als Naturbeherrschung. Dann folgen aber die alles entscheidenden zwei Sätze: "Das Interesse an der Lebenserhaltung durch gesellschaftliche Arbeit unter dem Zwang natürlicher Umstände scheint in den bisherigen Entwicklungsstadien der meschlichen Gattung so gut wie konstant gewesen zu sein. Deshalb ist ein Konsensus über den Sinn von technischer Verfügung diesseits historischer und kultureller Schwellen ohne prinzipielle Schwierigkeiten zu erreichen; die intersubjektive Geltung erfahrungswisenschaftlicher Aussagen, die sich nach Kriterien dieses Vorverständnisses richtet, ist deshalb gesichert." (S. 307)

Habermas unterschlägt dabei gezielt, dass dieses Vorverständnis weder geneaologisch (Flucht vor der ägyptischen Zivilsation und Wüstengang der Juden im Vertrauen auf Manna in der Bibel, Lotophagen und weggeprügelte Gefährten im Odysseus) noch interkulturell (animistische Naturreligionen) noch innerhalb derselben Kultur (Bürger neben Junkie) vorausgesetzt werden kann, sondern mittels Konflikt und schliesslich Krieg technisch durchgesetzt werden muss - wozu dieses sich aufgrund seines inneren Aufbaus hervorragend eignet. Habermas verschweigt logisch stringent, dass nicht allgemein die Manufaktur der Ort der praktischen Verwendung der neuen Physik im 17. Jh war, sondern die Verwendung der Artillerie. Der Preis der universellen Gültigkeit des empiristisch-technizistischen Vorverständnisses war und ist die technische Vernichtung des Anderen zugunsten eines universellen Wahrheitsanspruches - in der Moderne der Wahrheitsanspruch des militärisch-industriellen Komplexes. Trickreich fährt Habermas fort, dass die auf Individuen ausgedehnte Verdinglichung die "Kategorien der Lebenswelt" sowohl "aufsprengt" als auch "hintergeht" (S. 309) - unter der Bedingung, dass diese Verdinglichung "ohne prinzipielle Schwierigkeiten" "intersubjektiv" "gesichert" ist! Er fährt fort: "wenn die erkenntnisleitenden Interessen bloss formalisiert, aber nicht suspendiert werden können, dann müssen diese unter Kontrolle gebracht, als objektive Interessen aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang kritisiert oder legitimiert werden" (S. 309) - ein rein rhetorisches "oder"! Später wird Habermas mit der Theorie von System und Lebenswelt im Bürgertum reüssieren, wobei die Lebenswelt nicht anders denn als bürgerlich privates Refugium vor der umfassenden Wahrheit des Systems interpretiert werden kann.

Habermas sieht sehr wohl, dass das System - oder, etwas allgemeiner, der militärisch-industrielle Komplex - fundamentaler Kritik ausgesetzt ist. Diese Erkenntnis ist die Grundlage seiner rhetorischen Tricks: Fundamentalkritik innerhalb der Sozialwissenschaft wird einerseits normativ gefordert und andererseits als der Lebenswelt zugehörig vor dem umfassenden System partikularisiert. Ein Ausdruck wie das bei Adorno anzutreffende "falsche Ganze" ist in der Habermasschen Konzeption logisch nicht mehr möglich.

Vom System zum Krieg

Vor diesem Hintergrund kann die Art und Weise des Eintretens Habermas' für den Angriffskrieg der Nato gegen Restjugoslawien stringent hergeleitet werden: Habermas identifiziert den praktischen Betrieb des militärisch-industriellen Komplexes mit der intersubjektiv geteilten Wahrheit an sich. Diese Intersubjektivität ist jedoch brüchig und muss immer wieder durch konkrete Morde an konkreten Individuen unter Beweis gestellt werden: "Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer" in dem Sinne, dass er im Zerfetzt- und Verbranntwerden die empirisch-analytische Wissenschaft von aussen gesehen respektiert und als ehemals sprachbegabte Person nicht mehr dementieren kann. Dabei ist es irrelevant, wen die Geschosse treffen: die Botschaft richtet sich nicht an die ermordeten, sondern an die Überlebenden auf beiden Seiten der Front: "Gegen uns kommt ihr nicht an!".

Nun arbeitet Habermas in einem arbeitsteiligen System; es läge ihm fern, die technischen Vorzüge der computerisierten Apache-Hubschrauber, Stealth-Bomber und der neuen Benzin-Kleinmassenvernichtungsbomben öffentlich zu besingen. Wenn er deren numinose Faszination schon nicht voraussetzen kann, erledigen das für ihn die Propagandisten von "Discovery Channel" und die technikbegeisterten Sozialdemokraten und Grünen. Er selbst ist mit der philosophischen Legitimation befasst. Also sucht er sich den valabelsten Namen, findet ihn in Kant und interpretiert ihn dermassen um, dass er als Schmiermittel der Kanonen funktionalisiert werden kann. Den Rest erledigen die vermeintlich linksalternativen Schreiberlinge in TV, Funk, Presse und Politik ganz von allein.

Die absolute Herrschaft des Systems bringt mit sich die absolute Herrschaft des Kriegs. Seit dem Ende des kalten Krieges sind die westlichen aufgeklärten demokratischen sozialen Marktwirtschaften in einer realen Konurrenzssituation: welcher Nationalstaat (hier verstanden als Konglomerat von Wirtschaftskönigen wie Kirch oder Bertelsmann, machtbesessenen Politikern wie Scharping oder Fischer und Geld- und anerkennungssüchtigen Philosophen wie Habermas) wird in Zukunft seinen Günstlingen den schönsten Platz an der Sonne bieten können? Diese Frage entscheidet sich unter dem von Habermas schon 1972 kontrafaktisch postulierten universellen Konsens zur technischen Verfügung über die Natur - und jeder technischen Zivilisation tritt das Andere als äussere Natur gegenüber - an der Perfektion der eingesetzten Mittel, welche wiederum nur in der Praxis experimentell-empirisch weiterentwickelt werden können.

Der Kosovo-Krieg erfüllt damit - wie jeder Krieg einer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, die sich selbst als gefährdet erlebt - eine Doppelfunktion: experimentell-empirische Weiterentwicklung der technischen Vernichtungsmittel im Ausland einerseits und Vorführen des Ungenügens und der Schwäche jeglichen dissidenten Sinnhorizontes im Inland andererseits.

Unter diesen Voraussetzungen wäre es völlig unverständlich, wenn die westliche Zivilgesellschaft mehr als nur einen winzigen Bruchteil jenes Geldes, das in die Vernichtung der zivilen Infrastruktur Restjugoslawiens investiert wurde, für den "Aufbau einer Zivilgesellschaft" im Kosovo verwenden würde. Das "erkenntnisleidende" (Schreibfehler (?) von Habermas auf S. 309) Subjekt steht ganz unbescheiden vor der monetär verdinglichten Tatsche, die fest steht wie die Klagemauer in Jerusalem.