|
|
|
|
Schluss mit dem jüngsten
Gericht
(frz. im Orig: Pour en finir avec le jugement de
dieu*)
von von Franco "Bifo"
Berardi
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Das Schicksal des zwanzigsten Jahrhunderts: das
ist der Einsatz des Jahres sieben-sieben. Verdammte
Zahl. Visionäre Zahl
Voraussagen und Exorzismen
Dionysische Erregung und
unheilvoller Hexensabbat
Ende
der Versprechung, Beginn des Endes
Frühling und Herbst
Das
Jahr der Wasserscheide Frühling: Die Hoffnung der
Moderne völlig zusammengezogen, völlig
verdichtet in jenen Märztagen. Das Theater der
Piazza Verdi und der Barrikaden, der Versammlungen in
Bologna und Rom, der freien Radios, die in hundert
Städten mit voller Stimme verkünden, daß
es möglich ist, sich aus den Ketten des Bestehenden
zu befreien, daß das Versprechen von Glück,
Freiheit und Gleichheit jetzt eingelöst wird. Die
Voraussetzungen dafür erscheinen gegeben. Die Macht
der Intelligenz kann nicht länger in den dumpfen
Grenzen des ökonomischen Gesetzes gefangengehalten
werden. Technisch- wissenschaftliche Intelligenz und
kreative Vorstellungskraft stellen sich vereint gegen
die Herrschaft des Kapitals und die Disziplin der
Lohnarbeit.
Die außer Rand und Band geratene
Rationalität des kapitalistischen Staates und der
Bürokratie, von Agnelli und Lama, reagiert auf die
Hoffnung mit den Argumenten des Unvermeidlichen: Die
Ökonomie, die Ordnung, das Opfer, der Konsens, die
Sachzwänge. Panzerwägen, Massenverhaftungen,
gewaltsames zum Schweigen bringen der Radios, der
Verlage, der Stimmen des Dissenses. Das tragische Licht
des Jahrhunderts gewinnt die Oberhand. Herbst: auf die
zähnefletschende Aggression des historischen
Kompromisses - klerikal- stalinistisch-faschistisches
Monster, Synthese der gesamten italiotischen
Pornopolitik - folgt das Wiederauftauchen des
spätleninistischen Traditionalismus, den die
ironische Erhebung im Februar und März
aufgelöst, in Scherben geschlagen hatte. Der
hysterische Subjektivismus des Willens gewinnt die
Oberhand und reißt die gesamte Bewegung in den
Abgrund. Gnadenloser September. Verfluchter Palazzo
dello Sport (s.u.). Wenn wir die Bedeutung dieses Jahres
verstehen wollen, müssen wir vor allem die
Perspektive erweitern und die Weltkarte in ihrer ganzen
Ausdehnung betrachten.
Auf den italienischen Plätzen
erklingt die Forderung: "Keine Arbeit! Voller Lohn!
Vollautomatisierte Produktion" (Lavoro zero reditto
intero, tutta la produzione all automazione). Aber in
den selben Tagen erklären an den Ufern der Themse
die Sex Pistols das Ende der Zukunft. In den Garagen von
Silicon Valley bringen Steve Wozniak und Steve Jobs die
siegreiche Revolution von Apple auf den Weg. In Shanghai
endet die delirierende und klare, leuchtende und
finstere Geschichte der proletarischen Kulturrevolution
im Terror. In Paris schreiben im Auftrag von Giscard
D'Estaing Simon Nora und Alain Minc "Die
Informatisierung der Gesellschaft", Vorhersage der
erschütternden Effekte der Telekommunikation auf
die Organisation des Wissens, der Politik und der
Ökonomie. In Moskau schreibt Juri Andropov, der
Direktor des KGB, einen Brief an den wandelnden Leichnam
Leonid Breshnev: Genosse Generalsekretär, entweder
wird es der Sowjetunion binnen fünf Jahren
gelingen, die Distanz zum Westen auf dem Gebiet der
Informationsverarbeitung aufzuholen, oder es ist
für uns vorbei. Fünf Jahre später wird er
für wenige Monate den Sitz der höchsten Macht
seines Landes besteigen und Gorbatshov und Jakovlev
rufen lassen, um ihnen zu sagen: es ist vorbei. Das ist
siebenundsiebzig.
Jenes Jahr ist der Endpunkt der
tumultartigen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts,
des Jahrhunderts der proletarischen Revolution, der
totalitären Ideologien und des nie vollständig
erfüllten demokratischen Versprechens; es ist das
Jahr der Wasserscheide zwischen industrialisierter,
proletarischer Gesellschaft und einer Gesellschaft, die
neu erfunden werden muß, ausgehend von den
technologischen Möglichkeiten, die im Laufe des
anhaltenden Kampfes zwischen Arbeitern und Kapital
geschaffen
wurden. Aber diese neue Gesellschaft zu erfinden ist
nicht möglich mit den Instrumenten der alten: mit
den politischen Instrumenten, den Instrumenten der
bürokratischen und militärischen Organisation,
der Demokratie und des Antagonismus. Neue Instrumente
waren nötig, und wir haben es nicht verstanden, sie
zu erfinden. Vielleicht war es deswegen nicht
möglich, weil damals (wie heute) ein langer
Evolutionsprozess nötig war, eine wechselseitige
Neumodellierung des sozialen Organismus und der
technoproduktiven Umwelt, eine großenteils
unbewußte Veränderung, die sich gerade
vollzieht und sich noch lange, finster und schmerzhaft
hinziehen wird. Die Bewegung von `77 fand sich in der
Spannung zwischen zwei zusammenhängenden, aber
entgegengesetzten Prozessen: Auf der einen Seite
erscheint sie als verzweifelter Widerstand der Formen
der Gesellschaftlichkeit, die in der Epoche der
Hochindustrialisierung entstanden sind; auf der anderen
Seite als erstes Bewußtsein, als erstes Auftreten
einer Mentalisierung der Arbeitsaktivität und der
gesamten gesellschaftlichen Zirkulation. Der
Prozeß, der den gesellschaftlichen Körper
durchdringt, ihn erst zerreißt und ihn dann in den
achtziger Jahren erstarren läßt,
läßt sich als Prozeß der
Entmaterialisierung definieren. Es entmaterialisiert
sich der Produktionsprozeß der Waren in dem Sinne,
daß die Aktivität der Materialbearbeitung
durch die Entwicklung von Programmen ersetzt wird, die
notwendig sind, um Maschinen die Materialbearbeitung
vollbringen zu lassen. Es entmaterialisiert sich die
Beziehung zwischen den Individuen dank der
Telekommunikation, die die Notwendigkeit einer Beziehung
zwischen den Körpern beim kommunikativen Austausch
eliminiert. Es entmaterialisiert sich die
gesellschaftliche Steuerung (comando sociale), die immer
mehr in Form informativer Kontrolle oder durch die
Induktion von imaginären, mythologischen und
psychischen Strömen ausgeübt werden kann. Es
entmaterialisiert sich die politische Partizipation, die
immer mehr den Strategen des Konsenses und der
Bildproduktion überlassen wird. Die Stadt, dieses
grundlegende Produkt der menschlichen Zivilisation, die
ihre Vollendung in der bürgerlichen Epoche
erreichte, wo sie zur Schnittstelle des Austauschs von
Waren und Ideen zwischen Menschen wurde, die sich
berühren, erreicht jetzt den Moment der Explosion
im Hyperwachstum der Metropolen: Die Metropole ist die
Hypertrophie der urbanen Funktion, die zugleich die
Unmöglichkeit einer territorialisierten Beziehung
von Mensch zu Mensch hervorbringt. In der Stadt begegnen
sich die Menschen, um sich zu erkennen, in der Metropole
begegnen sich die Menschen, ohne sich noch kennen zu
können. In der Stadt berühren sich die
Menschen erotisch, in der Metropole ist der Kontakt
pornografisch und aggressiv. Die metropolitane Form
bedingt den Zusammenbruch der Kommunikationsformen und
der politischen Organisation, die die Stadt
hervorgebracht hatte. Die Individuen gehen über in
Terminals abstrakter Austausch-Netze. Das posturbane
Territorium ist Ort des Durchgangs, der schnellen
Verlagerung, ein Ort, der von Zellen mit Terminals
bevölkert wird, die telematisch miteinander in
Verbindung stehen. Das Fernsehen, Maschine der
Vereinheitlichung, der Atomisierung, umgekehrtes
Telepanoptikon, wird in diesem Übergang zum
Mittelpunkt der Welt.
Die
Bewegung von `77 beginnt genau an dem Punkt, an dem ein
Bewußtsein dieser Entmaterialisierung entsteht,
und folglich ist ihre Seele zerissen und
widersprüchlich. In der Tat fließt darin die
Geschichte aller Bewegungen des Arbeiterkampfes und des
Jugendprotestes der letzten Jahrzehnte zusammen: gegen
die Arbeit gerichtete Forderung nach Sinnlichkeit,
kollektiver Erotik, kollektiven künstlerischen
Experimenten. All dies manifestiert sich als
verzweifeltes Zucken des Widerstands der
städtischen Kultur, der Stadt, der konkreten
Interaktion, des städtischen Kontaktes zwischen
Körpern, des direkten politischen Austauschs und
kontinuierlichen Dialogs. In diesem Sinn ist `77 die
letzte Forderung nach Politik in ihrer
ursprünglichen, urbanen Bedeutung. Diese Forderung
war sehr viel stärker als die Projektierung einer
neuen utopischen Gesellschaft. Und doch war die `77er
Bewegung zugleich fähig, die neue imaginäre
Dimension zu entdecken, in deren Richtung sich die
gesellschaftliche Kommunikation projizierte. Sie war
auch in der Lage, die neue, über die Arbeit
hinausweisende Dimension vorauszuahnen, der sich die
soziale Produktion beim Untergang des klassischen
Industrialismus zuwandte. Die `77er Bewegung nahm das
Bevorstehen einer absolut grundlegenden Transformation
der sozialen Organisierung und der Qualität der
Arbeitsaktivität wahr. Sie nahm es wahr als
drohende Vereisung, als drohende Ersetzung des
Menschlichen durch das Maschinelle. Diese Tendenz
erschien von Anfang an zweideutig, beladen mit
emanzipatorischen Versprechen (Ende der Arbeit) und mit
der Drohung einer Vereisung. Deshalb manifestiert sich
die Bewegung in zweifacher Weise. Als eine
hypermodernistische Projektion hin auf eine volle
Entfaltung der Möglichkeiten, der möglichen
Zukünfte; und als Widerstand gegen den
hypermodernen Alptraum. Die Verhaltensweisen der
Bewegung erscheinen so in einem Zwiespalt gefangen: Die
Ambiguität des Jahrs der Wasserscheide. Der
Demonstrationszug, der sich in der Stadt bildet, der
Strom von Männern und Frauen, die durch die
Strassen ziehen, steht für eine Verteidigung der
menschlichen Dimension, der Konkretheit der Städte.
Die Zerstörung der Autos ist ein ökologischer
Ritus, der sich gegen den dumpfen Modernismus auflehnt
und die Möglichkeit einer intelligenten
Umgestaltung der Moderne (postmodernizzazione
intelligente) einfordert . Aber welchen Sinn kann der
Zug in einer Stadt haben, die nicht mehr existiert, die
sich in den Straßen nicht mehr berührt, die
telekommuniziert, ohne physisch zu interagieren? Der
Terrorismus fügt sich in dieses Niveau der
Entmaterialisierung ein, als er den Untergrund und die
spektakuläre Aktion wählt: Untergetaucht in
einer Stadt, in der jeder für jeden anderen
untergetaucht ist, also gleichermaßen
depersonalisiert, atomisiert und eines konkreten Lebens
beraubt; und doch genau dadurch fähig, auf deren
kalten, abstrakten Kreislauf einzuwirken, gerade wegen
dessen Medialisierung. Deshalb wird der Terrorismus
genau dort geboren, wo die Bewegung geschlagen ist. Im
Gegensatz zu den Falschmeldungen der (rechten und
linken) Presse des Regimes ist der Terrorismus nicht
organischer Bestandteil der Bewegung, sondern
zerbröckelt diese von innen, er begräbt sie
und profitiert schliesslich von ihrem Verschwinden. Und
der Terrorismus jener Jahre war ein
widersprüchliches Phänomen. Das
Bewußsein seiner Akteure war mehr als
rückwärtsgewandt und obskurantisch, bezogen
auf theoretische Modelle des Frühkapitalismus und
auf das Ziel einer Diktatur der traditionellsten
Sektoren des Proletariats. Aber der mediale Effekt der
terroristischen Aktion stellte sehr schnell den Kontakt
her mit den Funktionsmechanismen der Gesellschaft des
Spektakels. Dies erschien als Erfolg der terroristischen
Aktion, aber schon bald wurden die Untergetauchten zu
reinen Instrumenten und dann zu Opfern einer Maschine,
die sie nicht verstanden.
Verdammter September
Wenn der März die Entfaltung einer
Perspektive war, in der alle Möglichkeiten erahnbar
waren, war der September der Moment, in dem sich diese
Perspektive wieder verschloß. Es war der Monat der
Konferenz gegen die Repression (convegno contro la
repressione), die in dem Appell vorgeschlagen worden
war, den Felix Guattari (u.a.) während des Sommers
in Paris lanciert hatte. Der Intention der Initiatoren
nach hätte dieses Treffen eine Öffnung der in
Rom und Bologna geborenen Bewegung hin zum Europa der
Gegenkulturen werden müssen, eine Öffnung
für eine gemeinsam zu entdeckende Zukunft.
Stattdessen endete es als eine provinzielle
Klausurtagung mit dialektischen (im it. auch
mundartlichen) Sektierereien der Bürokratie der
unterschiedlichen Sektoren der organisierten Autonomie,
als Regression auf seit Jahrzehnten veraltete
Leninismen. Auf diesem Treffen können wir auch
physisch den inneren Spagat der Bewegung sehen. Auf den
Plätzen und in den Straßen der Stadt schicken
sich zehntausende Menschen kollektiv an, auf die
heraufziehende Epoche zu lauschen. In der
Abgeschlossenheit des Palazzo dello Sport finden sich
sechstausend Bürokraten des Ressentiments zusammen,
um die Umformung der autonomen Bewegung in organisierte
antagonistische Subjektivität, das heißt ihre
Zerstörung, zu planen. Antagonistisch und
Organisierung sind die zwei Irrtümer (parole
sbagliate), die sich der Möglichkeit der
Verwurzelung und der Ausdehnung der Autonomie
widersetzen. Antagonistisch sein bedeutet, sich durch
Bezug auf den Feind zu definieren, also sich in
abhängiger Form zu definieren, als Untertanen, als
Sub-jekte. Und Organisierung bedeutet Reduzierung der
gesellschaftlichen Dynamiken auf einen subjektiven
Entwurf, der die Linien des leninistischen Projektes
nachahmt. Das verspätete Wiederauftauchen des
Leninismus, eingebracht in die Bewegung durch jene
Komponente, die sich als organisierte Autonomie
definierte, war
die theoretische Form jener Unterwerfung. Wenn ich mich
an die Rolle erinnere, die wir in jenem Jahr gespielt
haben - wir, die wir uns als "querlaufende
Strömung" (corrente trasversale) bezeichneten
und uns immer weigerten, uns mit organisierten Formen zu
identifizieren - dann muß ich mir vor allem eine
Schuld vorwerfen: die Schuld, aus mißverstandenem
Geist der Einigkeit oder vielleicht aus Stammesehre
geschwiegen zu haben angesichts des arroganten
Wiederauftauchen des Leninismus in der Praxis und in der
Theorie. Unsere Zurückhaltung war ein irreparabler
Fehler, weil sie die Bewegung in die Sackgasse des
September führte. Mensch war also an der
entscheidenden Weggabelung. Das Gute, das es auf jeden
Fall zu bewahren galt, war das Erbe der autonomen
Experimente auf den Gebieten der Produktion, der
Kommunikation, der Kunst, der Formen urbanen Lebens, das
die Bewegung angesammelt hatte. Im Juni hatte A/traverso
erklärt: "Die Revolution ist zu Ende, wir
haben gesiegt". Und hatte die Parole ausgegeben,
Zentren zur Abschaffung der Handarbeit (Centri di
Abolizione del Lavoro Manuale, CALMA) und Zentren zur
Verbreitung willkürlicher Nachrichten (Centri
Diffusione di Notizie Arbitrarie, CDNA) zu bilden. Im
September wurde diese Perspektive ausgelöscht durch
die Etablierung einer antagonistischen und
organisationsfetischistischen Logik. Den Beleg
hierfür gab es im Dezember, als in Rom aus
Anlaß der landesweiten Kundgebung der
Metallarbeiter die autonomen Komitees (Comitati
autonomi) entschieden, sich zu separieren und zu einer
Kundgebung "der Partei" aufzurufen, die wenige
tausend Personen anlockte und die Rückkehr zu einer
minoritären und ausschließlich reaktiven
Logik markierte.
Die Bewegung war auf dem Weg der
Auflösung. Sie hatte die Grenze der Moderne
markiert, aber sie hatte keine Modalität des
Übergangs ausgearbeitet, die in der Lage gewesen
wäre, die postindustrielle Gesellschaft von den
Fesseln und den Automatismen des industriellen
Kapitalismus zu befreien. Die Kräfte, die sich in
der Bewegung Ausdruck verschafft hatten, waren nicht
länger Akteure des Prozesses, sondern wurden seine
Zeugen und Opfer. Die Verbreitung des Heroins, die
Explosion des Terrorismus waren die Erscheinungsformen
dieser Auflösung. Und so entstanden die
Bedingungen, unter denen die Repression machen konnte,
was ihr `77 nicht gelungen war: einen Prozeß der
Entsolidarisierung in Bewegung zu setzen.
Von Stierkämpfern ohne Stiere
Um
wirklich mit dem Richtspruch des Allmächtigen zum
Schluß zu kommen, muß mensch sich fragen:
Und jetzt? Und morgen? Und dann? Die Bewegung von `77
war die Weissagung einer Welt, die noch nicht
völlig auseinandergefallen ist.
Ende der Moderne, langer
Übergang zur Erschaffung eines neuen Paradigmas,
das im Begriff ist, sich zu formieren. Aber wie entwirrt
mensch ein neues Paradigma aus dem verwickelten
bestehenden, aus der Dominanz des kapitalistischen
Modells über die emanzipatorischen
Möglichkeiten, die in der Entwicklung des
technisch-wissenschaftlichen Intellekts enthalten sind?
Natürlich überschreitet die Antwort bei weitem
die engen Grenzen dieses Aufsatzes, der als Schwerpunkt
`77 haben soll. Aber wenn wir `77 kapieren wollen,
wäre es gut, wenn wir uns ins Jahr 2017 begeben
könnten. Keiner auf der mickrigen politischen
Bühne der Gegenwart ist in der Lage, sich mit dem
Szenario des Werdens der Welt zu beschäftigen. Das
Problem ist, daß dieses Werden ein Wirbelsturm
geworden ist, daß keines
der Deutungsmuster,
über die die Politik verfügt, in der Lage ist,
den Turbulenzen zu folgen. Der letzte große
Politiker war wahrscheinlich Michail Gorbatshov und mit
ihm Vaclav Havel, und seine historische Aufgabe bestand
genau darin, die Politik für beendet zu
erklären, die Alternative für beendet zu
erklären und den politischen Willen. Gorbatshov war
der letzte Politiker, weil er nicht behauptete,
daß der Kapitalismus die schönste Sache der
Welt sei, sondern lediglich anerkannte, daß es
gegenüber der Macht der Automatismen des
Kapitalismus keinen politischen Willen gibt, der
zählt. Und in der Tat haben ihn jene Automatismen
entthront. Und Vaclav Havel hatte kurz nach dem Ende des
autoritären Sozialismus in Prag den Mut zu
erklären: "Im Namen der politischen Freiheit
hat man in der Gesellschaft all jenes entfesselt, was
das Schlechteste in der Natur des Menschen ist".
Wie sehr sie sich auch mit rhetorischen Szenerien
umgeben, das Handeln der Politiker spielt sich immer im
Irrelevanten ab. Den enormen Umwandlungen unserer Zeit
sind ihre Worte und Handlungen gleichgültig. In der
Tat findet die politische Handlung jetzt nur in einer
selbstreferentiellen Sphäre statt. Der Stier steht
woanders. Der Stier ist der ökonomische
Automatismus, der, wenn gerade keine Gaskammern gebaut
werden, Arbeiter entläßt; der Automatismus,
durch den die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit
sich in großes Elend verwandelt, anstatt in eine
Freisetzung von Zeit. Es ist der Automatismus, durch den
es die enorme Mehrheit der Menschheit für
unentbehrlich hält, ein Auto pro Nase zu haben,
anstelle öffentliche Verkehrsmittel zu
entwickeln.
Die realen Umwandlungen vollziehen sich in einer
Sphäre, die sich dem politischen Willen entzieht:
der Sphäre des unendlich kleinen, der
programmierten Informationsverarbeitung, der
biogenetischen Mutationen. Oder andersherum das
unendlich große der unregierbaren Globalisierung:
die makroskopische Sphäre der finanziellen
Scheingeschäfte. Die Politiker sind daher wie
falsche Stierkämpfer, mit all ihren banderillas und
picadillas, mit all ihrem Publikum, das schreit und sie
anfeuert. Aber es gibt keinen Stier mehr. Der Stier
steht in den biotechnologischen Labors, in den Garagen,
in denen Software geschrieben wird, an den Orten der
Produktion der Phantasiezukünfte, in Hollywood und
im "Medialab" in Boston. Das Problem ist,
daß die Komplexität der Welt bei weitem die
Grenze überschritten hat, innerhalb der sie
reduzierbar war auf eine ideologische Auswahl, auf eine
Wahlmöglichkeit, auf eine Entscheidung. Und ohne
Entscheidung ist die Politik nichts. Und ohne Wahl ist
die Entscheidung nichts. Und ohne Auswahlkriterien gibt
es keine Wahl. Die Automatismen des weltweiten
Kapitalismus sind sehr viel stärker als jedwede
Möglichkeit einer Alternative, als jede
Entscheidung und jede Wahlmöglichkeit. Was ist es,
das die politische Klasse der "zweiten
italienischen Republik" legitimiert? Es ist ihr
"post" sein. Dieses Regime hat als eigenes
Fundament keine andere Motivation als die des Aufgebens
der Motivationen. Deshalb ist das einzige Feld, auf dem
Politik momentan handelt, die Reform der Politik selber:
die Perfektionierung einer Maschine, die nichts mehr
produziert.
=>
FORTSETZUNG |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|