Was die Bilder nicht erzählen
Ronit Matalon: Was die Bilder nicht erzählen, Reinbek: Rowohlt, 1998

von Micha Elm
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"Ma nièce", erklärt er den Einkäufern, die mir zunicken. Mit seinen über sechzig Jahren – zehn Pleiten hinter sich, begleitet von Touren durch ganz Afrika von einem maroden Unternehmen zum anderen, erkrankt an allen Leiden, die dieser Ort zu bieten hat, ohne Haare und Zähne, mit einer Stimme wie Tino Rossi, die junge Mädchen erbleichen läßt – trägt er jetzt mehr denn je die typischen Familienzüge. Das zähe Schicksal hat sich mit Gewalt durchgesetzt, hat mit Gewalt das seine genommen, pfeift mit seinem großen Maul auf den Staub der persönlichen Wahl, zerreibt diese Wahl selbst zu Staub und offenbart die verschlossenen Züge von Nona Fortunée, Mutter und Onkel Moïse, die Sinnlichkeit der Lippen, die sich mittels zweier tiefer, strenger Falten zu beiden Seiten des Mundes tarnt, und die schmalen Wangen mit den vornehm spitzen Knochen darüber, die jede Verwandtschaft mit dem plumpen, verschlampten Körper leugnen, den nachlässig irgendein Hemd bedeckt.

Vierzig Jahre ist er wie ein Schlamper durch die Welt vagabundiert, bis ihn die Alterssentimentalität ereilte, dieses Gefühlsvibrato: Jemanden von der Familie möchte er auf einmal sehen, quelqu’un de la famille, der kommt und ein bißchen in seinem Achtzimmerhaus bei ihm sitzt, warum nicht?"

Und so kommt sie, la nièce, nicht ganz freiwillig, wie sich herausstellt, wird sie auf die Reise geschickt. Siebzehnjährig soll sie mit den Realitäten der Welt vertraut gemacht werden, den Kopf zurechtgerückt bekommen. Und wer wäre dazu besser geeignet als Onkel Cicurel, mit seinem Fischereibetrieb in Douala\Camerun, der die geschäftlichen und privaten Verlogenheiten seiner Mitmenschen gnadenlos durchschaut, sie auf ihre Interessen- und Machtgeleitetheit reduziert und darüber zynisch geworden ist."

So beginnt die autobiographisch gefärbte Erzählung Ronit Matalons, die der Geschichte ihrer Familie nachstöbert; einer Familie jüdischer Herkunft im Kairo der dreißiger Jahre, die ökonomisch verarmt, kulturell dem Großbürgertum nahestehend, mit der 1952 von Nasser initierten sozialistischen Machtübernahme das Land verlassen muß. Zwei Kapitel des Romans sind Essays einer anderen Autorin, Jacqueline Kahanoffs, die Matalon dazu verwendet, die Stimmung des Kairos der dreißiger Jahre zu beschreiben. In ihnen kommt die Zerrissenheit der jungen Frauen der jüdischen, griechischen, syrischen und koptischen Minderheiten zum Ausdruck, deren Emanzipation mit ihrer gehobenen Bildung enden soll. Die Frauen sehen sich in einer Vermittlerinnenrolle zwischen europäischen Befreiungsideen und arabisch-moslemischer Gesellschaft. Matalon rekonstruiert zum einen die verschüttete Geschichte und greift mit ihrer Hauptperson Esther, den naiv aufklärerisch und emanzipativen Geist dieser Epoche in Zeiten des Postkolonialismus wieder auf.

Die Geschichte wird entlang gewöhnlicher Familienfotos erzählt, die auf den ersten Blick so langweilig aussehen, wie Familienfotos eben sind; Eltern mit Kindern im Arm, das Brautpaar am Hochzeitstag, verschiedene Menschen die etwas bemüht in die Kamera lächeln. Erstaunlicherweise gelingt es der Erzählerin durch die detailgetreue Schilderung der Bilder, sie ihrer Trivialität zu enteignen, bis zu einem Punkt, an dem man auf die Gewohnheiten und Nachlässigkeiten des eigenen Blicks stößt. Freilich kommt da noch die fehlende Geschichte um die Bilder hinzu, die so manchen Blick erst ermöglicht und das Banale in etwas Besonderes oder gar Vertrautes verwandelt.

Die Autorin, Ronit Matalon, Journalistin und Dozentin an einer Kunsthochschule in Tel Aviv, schildert die Familiengeschichte in doppelter Distanziertheit zu ihrer eigenen Person; nicht nur wählt sie die fiktive Erzählerin Esther, sondern diese redet über sich zumeist auch noch in der dritten Person. Nur selten gelingt es Esther über sich in der ersten Person zu reden. Einmal geschieht es genau in dem Augenblick, in dem sie begreift, wie sehr sie sich gegenüber anderen verstellt, ihnen nicht ihre tatsächlichen Gedanken mitteilt, die ganz normalen Unausgesprochen- und Verlogenheiten also. Gleichzeitig merkt sie, wie sie sich dabei selbst hintergeht, indem Sie Beziehungen pflegt, die ihr im Grunde nicht viel bedeuten. Es scheint, als wäre es gerade die Einsicht in die Aufgespaltenheit ihrer Person zwischen öffentlichen und privaten Ansichten, die Sie befähigen, `Ich´ zu sagen. Sie begibt sich damit einer naiven Aufgeklärtheit und Kindlichkeit der 17-jährigen Erzählerin, allerdings mit der Absicht die Zwiespältigkeit aufzuheben, nicht sich resigniert auf sie zurück zu ziehen.

Mit dem Stolz aufgeklärter Töchter rebelliert sie gegen den Rassismus ihrer Gastfamilie, will sie die schwarzen Hausangestellten des Onkels als frei und gleich behandeln und ist dabei meilenweit von deren Realität entfernt. Der eigene postkoloniale Rassismus holt sie dann auch bei einem Besuch im Elendsquartier des Kochs Julien jäh ein, dem sie zur vermeintlichen Geburt seines ersten Kindes einen großen Teddybären schenken will. So richtig gut kommt keiner weg im familiären Gruselkabinett. Mutter und Herumtreiber Vater, Großvater Jacqout und Nona Fortunée, die beide auf ihre Weise in der Vergangenheit hängengeblieben sind, Bruder Edouard, der Araberhasser, am ehesten noch Onkel Moïse, der den größten Teil der Familie nach Israel bringt, aber auch seine Anstrengung die Familie zusammenzuhalten, wirkt irgendwann zwanghaft.

Der analytische Blick, der nötig ist, um in dieser Offenheit über die nächsten Angehörigen sprechen zu können, bleibt seltsam gefühlvoll,– und das meint nicht das Gerede über die kleinen Schwächen der Leute, die sie so menschlich machen –, gerade das Glättende einer solchen Betrachtung versagt sie sich die Autorin. Sicher verschafft die eindringliche Beschäftigung mit den nächsten Angehörigen einen anderen Zugang und führt zu einem gewissen Verständnis noch deren Macken, aber es kommt etwas anderes hinzu: Die Stimme, die hier erzählt, scheint einen Ausweg aus dem Dickicht von Betrug und Selbstbetrug gefunden zu haben. Sie enthält sich eines abschließenden Urteils und mutet es der/m LeserIn selber zu, einen Standpunkt zu beziehen. Indem das biographische Wissen um sich und die anderen zwar zur Selbständigkeit beiträgt, aber an der Eigenständigkeit der anderen seine Grenze hat, entsteht nicht der Eindruck, daß einem hier was aufgenötigt werden soll. Vermieden wird ein klassischer Irrtum von Aufklärung, daß diese von sich aus irgendwohin führe. In der Erzählung existiert eine Zuversicht auf Gegenseitigkeit, die sich höchstens im fiktiven Dialog mit der/m LeserIn, kaum aber im Roman selber ereignet, ihr aber die besondere Stimmung verleiht.

Gegen Ende des Romans taucht eine entfernte Verwandte auf, die die Antithese zu dieser Haltung verkörpert, vielleicht ein weiteres alter ego der Autorin. Susa ist Redakteurin bei der Washington Post und will ein Buch über die absonderliche Geschichte dieser jüdischen Familie in Ägypten schreiben. Die Fernsehserie "Roots" ist gerade das Thema in den USA. Dazu findet ein Treffen mit Mutter und Esther im Hilton-Hotel in Tel Aviv statt, bei dem Susa Details und Curiositäten aus dem Kairoer Leben der Familie erfahren will. Aber jede noch so nette Begebenheit, wie die endlosen Lieferungen von mit Käse, Kartoffeln, Spinat, mit kaltem Joghurt gefüllten Teigtaschen die die Kinder verschlingen, gerinnt unter diesem Blick.

Während sich die einen mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, kommt die Aufklärung in Gestalt eines investigativen Journalismus daher und will die Misere der Unwissenden offenkundig machen. Hübscher läßt sich Verdinglichung kaum darstellen.
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