NATO-Osterweiterung:
Der Mythos von der Wiedervereinigung Europas


von Alain Kessi
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Die NATO als Symbol für "den Westen"

Wie aber wird die NATO und ihre Osterweiterung in den verschiedenen Ländern Osteuropas wahrgenommen? Es wäre verkürzt, davon auszugehen, dass die OsteuropäerInnen, geschweige denn ihre Regierungen, nur durch Erpressung durch westliche Regierungen und internationale Institutionen dazu gebracht würden, den Willen der westlichen Mächte auszuführen. Druck, gar Erpressung, ist durchaus im Spiel. Parallel dazu machen aber Identifikationsangebote und die komplexe Verbindung dieser Institutionen mit dem Versprechen von Reichtum und unbesorgtem Konsumdasein das Streben zu einem NATO- oder EU-Beitritt attraktiv. Was die Regierungen angeht, so sind ihre VertreterInnen auch ohne äusseren Druck politisch dem Liberalismus, ökonomisch der neoklassischen Schule und somit den Wundern des Marktes verpflichtet, denn aus diesen Positionen ziehen sie ihre ideologische Legitimation als GegnerInnen des kollabierten Staatskapitalismus.

Der Prozess hin zu einem NATO-Beitritt kann in den Ländern Osteuropas nicht unabhängig gesehen werden von den Versprechungen der EU-Erweiterung. Erst nachdem die EU sich schwertat mit ihrer Osterweiterung, sprang die NATO als Symbol der Verlockung westlicher Lebensverhältnisse in die Lücke und stellte sich als ersten Schritt in Richtung EU dar. Der Bericht Clintons an den US-Kongress vom 24.2.97 bekennt sich zu dieser Köderpolitik: "Während es viele Gründe gibt, demokratische Reformen durchzuführen, Märkte auszubauen, in Sicherheitsangelegenheiten zu kooperieren und andere positive Ziele zu verfolgen, zeigt eine genaue Untersuchung der jüngeren Ereignisse in der Region, dass der Prozess der NATO-Erweiterung einen positiven Einfluss darin ausübt, die Entscheidungen der Staaten dieser Region in diese Richtung zu bewegen."

NATO- und EU-Beitritt werden von den Regierungen als "Heimkehr in die europäische Heimat" dargestellt. Die tendenziell imperialistische Rede von der "Vollendung Europas" (der österreichische Präsident Thomas Klestil am Gipfel des World Economic Forum / WEF in Salzburg im Juli 1998) von EUropäischer Seite findet ihre Entsprechung in den ständigen Beteuerungen osteuropäischer PolitikerInnen, ihr jeweiliges Land und ihre Kultur sei historisch Teil des zivilisierten Westens. Eine Mischung aus Erniedrigung, Nationalstolz und marktwirtschaftlicher Überzeugung bringt osteuropäische PolitikerInnen dazu, sich derart auf eine EUropäische und NATO-Integration einzuschiessen, dass für sorgfältige Diskussionen über autonomere Wege wenig Gelegenheit bleibt. Einzig die Bundesrepublik Jugoslawien und Weissrussland bilden Ausnahmen zu dieser Augen-zu-und-durch-Politik. In beiden Fällen geht jedoch die grössere Autonomie des Staates (und des Wirtschaftssystems) mit einem Regierungsstil einher, der die Autonomie der einzelnen Leute ebenso einschränkt wie die hegemoniale Ausrichtung gegen Westen in den anderen Ländern Osteuropas. Ganz direkt können diese Erfahrungen also wohl nicht für die Entwicklung einer linken Perspektive benutzt werden.

Was von den MachthaberInnen in Osteuropa so alles zur Überzeugung der eigenen Bevölkerung herangezogen wird, konnte am 18. März in Kiew an einer öffentlichen Konferenz mitverfolgt werden. Der ukrainische Sekretär für nationale Sicherheit, Vladimir Horbulin geht in seiner Einführung auf die NATO-Ukraine-Charta ein und erwähnt daraus neben der militärischen Zusammenarbeit auch technologische Hilfe, gemeinsame Projekte zur Umweltsicherheit, der zivil-militärische Kampf gegen das organisierte Verbrechen, gegen Drogenhandel. Jerzy Bahr, der polnische Botschafter in Kiew, betont eher die wirtschaftlichen Vorteile, die daraus entstehen, dass Investoren mit dem Beitritt mehr Vertrauen in die Stabilität seines Landes haben. Er erklärt, Polen könne nun dank der NATO im Verteidigungsbudget Geld einsparen [sic!] und dieses sozialen Aufgaben zukommen lassen. Der tschechische Botschafter Jozef Vrabec seinerseits stellt die bipolare Sicherheit in den Vordergrund, den Schutz des kleinen Tschechien vor den Grossen Deutschland und Russland. Auch er erwähnt den Kampf gegen Drogen, auch gegen illegale Immigration, gegen die Tschechien nicht alleine vorgehen könne - mangels Mittel. Genadiy Udovenko, ehemaliger Aussenminister der Ukraine, sieht in den neuen NATO-Mitgliedern einen Absatzmarkt für ukrainische Waffen, mit denen diese ihr Arsenal aus UdSSR-Zeiten vervollständigen können. Er hebt auch die mögliche Hilfe der NATO bei Umweltkatastrophen hervor, wie sie in der NATO-Ukraine-Charta vorgesehen ist und bereits mehrmals geleistet wurde. Die NATO als Lösung für alle möglichen und unmöglichen Probleme.

Das Gefühl der Unausweichlichkeit einer Westorientierung osteuropäischer Länder ist so verbreitet wie entnervend. Allein schon der Sprachgebrauch macht eine Alternative schwierig zu denken: Übergangsökonomien (transition economies) weisen auf einen Prozess, der von A (zentralistische Planwirtschaft) nach B (westlich-"demokratische" Marktwirtschaft) führt, mit Leitplanken, die ein Abkommen vom rechten Weg verhindern. Diese Alternativlosigkeit zu durchbrechen, sich aber gleichzeitig von nationalistischen AltkommunistInnen und neofaschistischen RechtspopulistInnen abzugrenzen, versuchen verschiedene Gruppen von AktivistInnen etwa in Tschechien. Als die Regierung am 12. März der NATO beitritt, finden tags darauf in den Strassen Prags mehrere Demonstrationen gegen den Beitritt statt. Redner an der Kundgebung der RepublikanerInnen verurteilen den deutschen Imperialismus und sehen die NATO als Machtinstrument Deutschlands zur Übernahme der tschechischen Wirtschaft und Zerstörung tschechischer Kultur und Eigenheit. Ein älterer Herr, vielleicht um die 80, spricht mich am Rande der Kundgebung an; hat wohl gehört, wie ich mit FreundInnen englisch rede. In etwas aus der Übung gekommenem, aber gepflegtem Oxford-Englisch erklärt er auf meine Frage, leider stimme vieles von dem, was die RepublikanerInnen sagen. Er fände es nur schade, dass sie ihren Diskurs in Nationalismus kleiden. Er selber habe sich im Krieg, als er von deutschen Soldaten verwundet wurde, geschworen, er würde nie mehr Nationalist sein, nie mehr für einen Staat in den Krieg ziehen. Als ich ihn nach den jungen glatzköpfigen Burschen frage, die eine Art Sicherheitsdienst für die Kundgebung leisten, fallen ihm die Nazi-Skins zum erstenmal auf. Er ist entrüstet. Das Eiserne Kreuz, das mit der NATO-Windrose auf dem Handzettel der RepublikanerInnen die Parallele zieht zwischen deutschem Expansionismus damals und heute, trägt einer der Skinheads um den Hals. Ein merkwürdiges Phänomen, die rassistische Internationale!

Sowohl gegen westliche Machtkämpfe um Einflusssphären in Osteuropa wie auch gegen den reaktionären Bezug der RepublikanerInnen auf die Nation richten sich am selben Tag zwei Demos der Punks und AnarchistInnen. Nach der Gegenkundgebung am Nachmittag gegen diejenige der RepublikanerInnen geht es am Abend in den Innenhof des Präsidentenpalastes. Lautstark protestieren mehrere anarchistische und linkssozialistische Gruppen gegen das Abfeiern der NATO - an die 1000 Gäste sind hier zum Anstossen auf die Zukunft Tschechiens als NATO-Mitglied eingeladen und schauen, mit Sektgläsern in der Hand, aus den grossen Fenstern des Palastes auf die Parolen skandierenden DemonstrantInnen. Sie seien politisch schon sehr isoliert, meint eine Teilnehmerin zu mir. Laut Umfragen stimmten an die 70% der tschechischen Bevölkerung einem Beitritt zu. Die GegnerInnen seien fast alle AltkommunistInnen. Oder eben RepublikanerInnen. Ihre Position erklären könne sie meist nur anderen AnarchistInnen, die auch grundsätzlich gegen staatliche wie auch transnationale Strukturen seien.


Bulgarien: Ungeduld macht sich breit

Der bulgarische Philosoph und Politologe Vladislav Todorov, der die Entwicklungen mittlerweile aus Philadelphia mitverfolgt, zeigt sich überzeugt, dass die Zukunft Bulgariens in der NATO und der EU liegt. Er warnt, dass der Weg Bulgariens in die NATO grundsätzlich anders sein wird als derjenige der ersten drei Kandidatsländer (seit dem 12. März Mitglieder der Allianz). Er weist darauf hin, dass die wahre Hürde für einen bulgarischen NATO-Beitritt nicht die NATO-Entscheidungsstrukturen als solche sein werden, sondern der US-Senat: "Faktisch ist die Prozedur die folgende: Man kandidiert bei der einen Institution, und tritt über die andere ein. Die Kandidatur erfolgt über die NATO und, ist man erst einmal eingeladen, tritt man über den Senat der Vereinigten Staaten ein, da dort der Entscheid gefällt wird, der das Schicksal der Kandidatur besiegelt." Die Bemühungen der bulgarischen Regierung, die Armee zu reformieren und NATO-tauglich zu machen, seien also zwar geeignet, jene Organisation zufriedenzustellen, die den Kandidaten einlädt: die NATO. Für den nächsten Schritt jedoch, für den eigentlichen Beitritt, dürfe man sich nicht zu sehr an den Bedingungen orientieren, die für die erste Gruppe von Beitrittskandidaturen aufgestellt worden seien. Um sich Chancen bei einer zweiten Welle einzuhandeln, falls es zu einer solchen denn überhaupt kommt, müssen die Unterschiede im europäischen wie vor allem im US-innenpolitischen Kontext herausgearbeitet werden, rät Todorov seinen bulgarischen MitbürgerInnen. Die US-polnische Lobby etwa habe einen grossen Einfluss auf die Aufnahme Polens ausgeübt. Eine bulgarische Lobby in Washington müsse jedoch erst aufgebaut werden.

Aber bereits auf der Ebene der Armeereform, einem Kernanliegen der (vielleicht einmal) einladenden Institution, schlägt die Diskussion in Bulgarien hohe Wellen. Vielleicht ist der Unterschied zu Tschechien der, dass hier der ersehnte Anschluss an den Westen in weite Ferne gerückt ist. Das gibt der bulgarischen Öffentlichkeit eine Gelegenheit, Widersprüche in der westlichen Politik erst einmal zu diskutieren. Nicht, dass die westlichen "Partner für den Frieden" der bulgarischen Politik in Zukunft grosse Bewegungsfreiheit geben würden, in denen sich Alternativen zu den westlichen "Angeboten" entfalten könnten. Trotzdem ist selbst unter den hartgesottensten "DemokratInnen" eine gewisse Desillusionierung festzustellen. Premierminister Kostow verkündete, die NATO müsse an ihrem Gipfeltreffen in Washington im April bekanntgeben, welches die nächsten eingeladenen Länder sind. Auch der EU gegenüber zeichnet sich ein stärkeres Auftreten der bulgarischen Regierung ab. Als der Entscheid der Schengenstaaten bekannt wurde, Bulgarien auf ihrer schwarzen Liste für Visa zu belassen, liess Kostow verlauten, die EU hätte nie etwas für Bulgarien getan. Die gezielte Provokation zeigt, dass Kostow bereit ist, seine bisher autoritär geführte Politik, alles auf einen EU-Beitritt auszurichten, zu ändern, sollte die EU weiter lavieren. Dieses ganz neue Element bulgarischer Politik kommt daher, dass Kostow nicht beliebig oft seinen WählerInnen versprechen kann, sie würden demnächst ohne Visum nach Westeuropa reisen können. Vorerst muss sich Bulgarien NATO-politisch als Musterschüler andienen. Aber auch das kann sich ändern, scheint Kostow mit seinem bestimmten Auftreten gegenüber der NATO auszudrücken.

Auf Anraten der NATO will Premierminister Iwan Kostow die bulgarische Armee von 85 000 Leuten auf 50 000 reduzieren. Dieser Plan gibt Anlass zu Machtgerangel unter den Offizieren. Ein Oberst, der in seiner Freizeit an einem Strassenstand Bücher verkauft, um sein Einkommen aufzubessern, erklärt mir, alle erfahrenen Offiziere würden rausgeschmissen und durch eine neue Generation ersetzt - eine neue Generation freilich, die westlich orientiert ist. So haben, auch wegen dem schlechten Ansehen der Armee, seit Anfang des Jahres bereits 500 höhere Offiziere die Armee verlassen, seit Anfang letzten Jahres 1500. Ein Kommentator in der Boulevardzeitung "24 Tschaassa" sieht Kostows Plan angesichts leerer Staatskassen als Unsinn: "Klar, die Tendenz ist weltweit zu kleinen, mobilen und gut bewaffneten Armeen hin. Wie in anderen Angelegenheiten auch, bezieht sich das jedoch nicht auf uns." Nicht ganz freiwillig dürfte Kostow damit seinen Beitrag zur Abrüstung in der Region beitragen.

Die Debatte wird aktuell vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Kosov@ und Serbien ausgetragen. Unter dem Einfluss der westlichen Köderpolitik lässt sich die bulgarische Regierung auf die reale Gefahr ein, seinen westlichen Nachbarn zu provozieren, aber auch, die im Oktober anstehenden Gemeindewahlen zu verlieren. Bereits bevor die NATO den Konflikt mit Bombardierungen eskalierte, hatte sich die bulgarische Regierung als erstes Mitglied der "Partnerschaft für den Frieden", der Struktur, mit der die NATO potentielle Beitrittskandidaten in gemeinsamen Manövern Testläufen unterwirft, bereit erklärt, für die Operation "Joint Guardian" gegen Jugoslawien logistische Hilfe zu leisten. Nach dem Beginn der Bombardierungen hat sich die bulgarische Regierung etwas vorsichtiger verhalten und versuchte anfangs einen Balanceakt zwischen gutnachbarlichen Beziehungen und NATO-Treue. Unterdessen haben sich die innenpolitischen Auswirkungen derart hochgeschaukelt, dass sich die Regierung in offenem Widerspruch zur Mehrheit der Leute befindet. Ungefähr 80% der BulgarInnen lehnt die NATO-Angriffe gegen Jugoslawien ab. Die westliche Kommunikationsmaschine zur Produktion von Legitimation greift hier nicht - oder allenfalls unter einem Teil der westlich orientierten Eliten. Zynische KommentatorInnen belehren die Leute, ihre Reaktion gegen den Krieg sei zwar menschlich und emotional verständlich, sei aber irrational und verbaue die Zukunft Bulgariens als ein dem Westen zugehöriges Land.

Die Drohung, die Bevölkerung ganzer Länder könnte angesichts der Unverfrorenheit der NATO-Angriffe, aber auch der bisherigen Hinhaltepolitik, auf einen radikal anti-westlichen und insbesondere anti-amerikanischen Kurs schwenken - der unterschwellig und mit verschwörungstheoretischer/antisemitischer Tendenz bereits im Aufbauen begriffen ist - dürfte aber in absehbarer Zeit diejenigen Kräfte in den USA stärken, die wie Madeleine Albright den Beitritt weiterer Länder zur NATO wünschen. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröders "Plan" sieht eine beschleunigte Integration neuer Länder in die EU und NATO vor, "zur Stabilisierung des Balkans". Die deutsche Aussenpolitik erhält damit eine Gelegenheit, eventuell eine EU-Osterweiterung durchzudrücken, ohne den grössten Teil davon alleine zu bezahlen. Bleibt abzuwarten, ob die deutsche Regierung selber überhaupt eine solche Erweiterung der EU und NATO wünscht, oder ob die Erklärungen Schröders eine Fortführung der bisherigen Hinhaltetaktik sind.

*Alain Kessi arbeitet als freier Journalist und lebt in Sofia, Bulgarien.

 

Literatur:

- Gernot Erler, Global Monopoly - Weltpolitik nach dem Ende der Sowjetunion"

, Berlin 1998. (Historischer Abriss aus friedenspolitischer Sicht von einem Kenner Osteuropas.)

- Rob de Wijk, NATO on the brink of the new millenium - The battle for consensus, London 1997. (Interessante Innenansicht der NATO und ihrer Suche nach einer neuen Existenzberechtigung.)

- Rainer Rupp, "Existenzängste der NATO - Warum interveniert der Nordatlantikpakt im Kosovo-Konflikt?", in: junge Welt vom 28.10.1998. (Rupp war 16 Jahre im NATO-Hauptquartier als Wirtschaftsexperte und Topspion der DDR tätig.)

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