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Hito Steyerl
Intellektuelle Migrantinnen - Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung

Ein Mensch, so Robert Musil, habe mindestens neun Charaktere, „einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, - aber sie loesen ihn auf.“ Geht es um die Erklaerung der Entstehung gegenwaertiger Charaktere, die sogenannte Subjektivierung, wird als deren Bestandteil gerne das Verhaeltnis von race, class and gender angefuehrt. Wie diese raetselhafte vereinigende Aufloesung nun aber tatsaechlich vonstatten geht, bleibt meistens diffus. Eine genaue Betrachtung dieses Verhaeltnisses hat nun Gutierrez Rodriguez in ihrer soziologischen Untersuchung ueber Subjektivierungsformen in Deutschland lebender „intellektueller Migrantinnen“ unternommen.

Es handelt sich bei diesen um Frauen, die einen Bildungsweg durchlaufen haben, der sie eigentlich fuer akademische Taetigkeiten qualifiziert. Dennoch sehen sie sich einem Deklassierungsprozess ausgesetzt, in dem sich die ueberblendenden Machttechniken von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung realisieren. Gleichzeitig sind alle Frauen in der Migrantinnenbewegung organisiert und nutzen ihr Wissen als „organische Intellektuelle“ zugunsten der von ihnen gewaehlten Zusammenschluesse. An der zwiespaeltigen Position der Befragten wird modellhaft ein formales Verfahren unaufloeslicher Widerspruechlichkeit transparent, das die gesamte Untersuchung durchzieht. Sowohl Theorie und Praxis der Protagonistinnen, als auch die komplexe Methode ihrer Darstellung bewegen sich in dynamischen Aporien, die die gleichzeitige Wirksamkeit von Unterdruecktheit und Widerstand hervorheben. Das theoretische Prinzip gleicht dabei einer reflexiven Montageanordnung verschiedener Formen postkolonialer, marxistischer und feministischer Kritik, die einander bestaendig in Frage stellen und ergaenzen.

Die Biographien der Protagonistinnen werden in diesem Kontext als Vermittlung zwischen „strukturellem Identitaetszwang und subjektiver Handlungsmoeglichkeit“ bestimmt und stellen in Form und Inhalt „dialektische Bilder“ dar. An diesen verdichten sich sowohl gesellschaftliche und diskursive Zwaenge, als auch die individuellen Weisen, mit ihnen umzugehen.

Anstatt jedoch die einzelnen Dispositive der Vergesellschaftung wie race, class und gender voneinander zu loesen, und als getrennte Mechanismen der Subjektformation zu betrachten, versteht Gutierez Rodriguez das komplexe Zusammenspiel zwischen Zwang und Freiheit als „Chronotop“ im Sinne Michail Bachtins. Also als spezifisch situiertes Raumzeitgefuege, das bestimmte Geschichten als kohaerent erscheinen laesst, sich in anderen jedoch als Bruch einschreibt. Mit dem chronotopischen Ansatz wird gleichsam die gesellschaftliche Dramaturgie jeglicher Erzaehlung von einem Subjekt miterfasst; egal ob es sich selbst erzaehlt, oder von jemand anders erzaehlt wird.

Auch diese textliche Ebene erweist sich laut Gutierez Rodriguez jedoch als unzureichend, wenn es darum geht, die materiellen Konsequenzen dieser Erzaehlung zu erklaeren. Zwar sind alle Subjekte symbolisch konstruiert, ihre reale Konstituierung, und letzlich Unterdrueckung als „auslaendische Frau oder Lesbe“ realisiert sich jedoch erst , wenn sie durch gesellschaftliche Dynamiken wie Rassismus, (Hetero-)Sexismus und Deklassierung verstaerkt wird. Eine rein symbolische Dekonstruktion greift also solange zu kurz, als nicht auch die gesellschaftlichen Praxen dementsprechend veraendert werden. Die von den Protagonistinnen aufgeworfenen Formen des Handelns und des Widerstands stellen demgegenueber ortsspezifische Taktiken vor, sich in einer dominanten Raumzeit zu bewegen, die fuer sie wesentlich mehr Hindernisse und Fallen als global enthemmte Flows bereithaelt. Was Gutierez Rodriguez als Politik der Oertlichkeit benennt, erweist sich somit auch als knifflig-charmantes Durchwursteln im Zeitalter der Globalisierung.

Oder wie Robert Musil weiterschreibt: „Deshalb hat jeder Erdbewohner noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefuellter Raeume; er gestattet den Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun anderen Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit anderen Worten gerade nicht was ihn ausfuellen sollte. Dieser, wie man zugeben muss, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefaerbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darin steht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.“


Encarnacion Gutierrez Rodriguez: Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhaltnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Leske und Budrich. Opladen 1999. 288S. DM39.-