I    II    III    IV    V    VI    VII    VIII    IX    X

quellen    ivp    inhalt
elektronisch gefesselte?

IV. AGGREGATZUSTÄNDE DER PRAXIS

Disziplinartechniken sind von Foucault und anderen meist in ihrer Produktion in und durch Institutionen untersucht worden. Electronic Monitoring, wenngleich an die Institution Justiz und Bewährungshilfe gekoppelt, findet aber nicht mehr im geschlossenen Ort einer totalen Institution statt, sondern weist auf flüssigere Aggregatzustände von Disziplinen oder Kontrollen: auf ein Regieren aus der Distanz. Für eine kulturanthropologische Arbeit bildet dies das Spannungsfeld, die Wirkung dieser Steuerungen in einem ihrer klassischen Forschungsbereiche, der Alltagswelt, zu untersuchen. Das bedeutet nicht, Alltag und Kultur als bislang herrschaftsfreie Felder, als den Kontrollen äußerlich, zu verhandeln, sondern als Terrains inmitten - sich oftmals kreuzender und überlagernder - gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Die folgenden Konzeptionen weisen zwar auf alltagskulturelle Praxen, doch will ich sie, wie in den vorherigen Kapiteln, eher als Werkzeuge verstanden wissen, denn als Unterordnung unter »analytische Pseudo-Entitäten wie ›Kultur‹« (Rabinow 2004, 116). Die umstrittene Konzeption dieses Begriffes weist in der modernen Kulturanthropologie stets auf konfliktive und umkämpfte Felder. Dabei wird Kultur als Spannungsfeld zwischen Kulturgebundenheit, als »enkulturierte Lebensweise (way of life) einer historisch bestimmten und bestimmbaren Gesellschaft« (Greverus 1987, 73), also einem Set von Regeln, in die die Individuen quasi »hineingeboren« werden und die sie nicht selbst geschaffen haben, sowie Kulturfähigkeit als der Möglichkeit von kreativem Umgang mit seiner Umwelt, diese zu beeinflussen und auch verändern zu können, verhandelt, wenn man so will in der Beziehung von Struktur und Handlung.49 Dabei interessiert mich an das vorherige Kapitel anschließend zuerst die Frage, welche »sich selbst genügenden« Kontroll-Prozesse die Praktiken der Normalisierung ausgestalten bzw. ummanteln: Wie sind die Mechanismen der Selbstvergewisserung und des »Common Sense« beschaffen, was wirkt mit bei der Konstruktion der sozialen Semantik von »Normalität«. Der nächste Schritt führt mich in die unmittelbare Lebenswelt: Denn jene, die an der elektronischen Fessel angeschlossen sind, vollziehen diese gerichtliche Anordnung nicht in der Einschließung einer Institution, sondern in ihrer eigenen Wohnung. Was für ein Alltag ist das, wie lässt er sich beschreiben oder auch wie es Lindenberg kritisch formuliert: »Handelt es sich noch um ein alltägliches Leben?« (Lindenberg 1992, 190). Die von den Alltagstheorien aufgeworfene Dialektik von Strategie und Taktik, Struktur und Handlung weist auf die Frage nach der Rolle bzw. dem Umgang mit Technik. So war besonders die Technik des »Monitoring« oder »Tagging« in der Diskussion um die Einführung der Fessel ein aufgeladenes Thema, darin kristallisiert sich »the apparent contradiction between utopian and dystopian themes« (Lyon 1994,203), in der laufenden Praxis des Modellversuches scheint sie aber verstummt oder ist einer pragmatischen Handhabung gewichen. Mich interessiert, wie die verschiedenen Akteure mit der Technik umgehen, a) durch das Tragen am eigenen Leib, b) durch Anordnung und Verwaltung der Technik, c) das diskursive Management des Technik-Einsatzes und der techno-kulturelle Transfer. Weil die Straftechnik Elektronische Fußfessel nicht mit einem traditionellen Einschließungsmilieu korrespondiert, werfe ich zuletzt kurz einen Blick auf das Verhältnis von Raum/Zeit. Inwieweit sind räumliche und zeitliche Verhältnisse hier flexibler oder anders eingeschränkt? Liegen auch hier Hinweise auf die Transformation der Gegenwart, dem "Werden" von neuen Dispositiven?

IV.1 Common Sense, Kohärenz, Konsens

In Kapitel II. versuchte ich zu zeigen, dass unser Alltag von Disziplinen und Normen derart durchkreuzt und kolonisiert wird, dass diese Mechanismen zur faktischen Evidenz, zu den »natürlichen« Gewohnheiten unseres Lebens werden. Die Norm wird (u. a. durch die Humanwissenschaften) zur natürlichen Regel, zum Kodex der Normalisierung erhoben (vgl. Foucault 1999, 48). Was sind darüber hinaus die Bedeutungs-Apparate, die dazu beitragen, dass vieles als so selbstverständlich erscheint, dass es nicht mehr hinterfragt wird? Warum ist dieses Gefüge von Macht/Wissen-Dispositiven, dass »Wahrheitswirkungen im Inneren von Diskursen entstehen [lässt], die in sich weder wahr noch falsch sind« (Foucault 1978, 34) so zäh und schafft damit konsensuelle »Verschleierungen« über die den Individuen ausgesetzten Zwänge? Welche sozialen und kulturellen Maschinen wirken mit bei der Konstruktion von »Normalität«, was »normal ist« bzw. als normal gilt?

Der Common Sense, dieses hydraförmige Scheusal
In der Kulturanthropologie bietet das Schlüsselkonzept des »Common Sense« eine Möglichkeit solche Bedeutungskonstruktionen für Alltagspraxen zu beschreiben. Common Sense ist dabei nicht identisch mit der Norm. Aber durch den Common Sense werden (einfache) Erklärungsmuster, warum die Dinge und die Regeln so sind, wie sie sind, bereitgestellt. Ulf Hannerz beschreibt Common Sense insofern als ein operationales System, welches ein semantisches Angebot macht:

»In action as well as in interaction, common sense involves an unreflective use of meanings which are close at hand and which have mostly already turned out to be convenient enough in dealing both with people and with the material world.« (Hannerz 1992, 127)
Common Sense ist dabei meist ein Konzept von Kultur als Bedeutungssystem und des Kultur-Management. Bourdieu drückt dieses Verhältnis mit der Terminologie »doxa« aus: »what goes without saying« (zit. n. ebd., 132). Für Clifford Geertz ist der Mensch in »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt«, wobei er »Kultur als dieses Gewebe ansehe« (Geertz 1987, 9). Geertz stellt Common Sense als kulturelles System dar: die Fähigkeit »mit Alltagsproblemen in einer alltäglichen Weise einigermaßen effizient umzugehen« (ebd., 264). Es ist »ein Diskurs mit einer Norm [...] eine Darstellung der Dinge, die beansprucht, die richtige zu sein« (ebd., 275). Common Sense ist charakterisiert durch a) »Natürlichkeit«: der Common Sense präsentiert die Dinge, »als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge« (ebd., 277), was sich in zahlreichen unhinterfragten Alltagsselbstverständlichkeiten niederschlägt; b) »Praktischheit«: die Bereitstellung eines praktischen Wissens, einer allgemeinen Alltags-Klugheit; c) »Dünnheit« als steter Rekurs auf Tat-Sachen und nicht auf Spitzfindigkeiten; d) »Unmethodischheit«: ein ad-hoc-Wissen wie in Sprichwörtern, Fabeln und Aphorismen; e) »Zugänglichkeit«: auf dem Gebiet des Common Sense ist jeder ein Experte, der Common Sense ist geistiges Eigentum aller.50 Common Sense ist somit ähnlich dogmatisch wie religiöses Wissen: »a totalizing frame of thought with which to access the ways of the world« (Rapport & Overing 2000, 59).51 Als Kontrast zu diesen starren kulturellen Systemen stellt Hannerz den Begriff »flux« anbei; »in a state of flux« (Hannerz 1992, 127) bedeutet auch prozessuale Momente einer komplexen kulturellen Situation in Bewegung zu erfassen, wenn dadurch der Common Sense destabilisiert wird. Die Logik von Kultur als Bedeutungssystem ist die der Integration. Hannerz plädiert daher für ein neues Verständnis von Kohärenz, das die Partikularität anerkennt (vgl. ebd., 162ff.). Für Michael Herzfeld ist Anthropologie deshalb (mit einer gewissen Selbstironie) die Wissenschaft einer Kritik am Common Sense:
»Anthropology entails the unveiling of intimate practices that lie behind rhetorical protestations of eternal truth, ranging from ›that's always been our custom‹, in almost every village and tribal society studied by the anthropologists of the past, to the evocation of science and logic by every modern political elite [...] We should not be surprised if those whose authority may be compromised by such revelations do not take to kindly to becoming the subjects of anthropological research« (Herzfeld 2001, 3).
Anthropologie kann so auch ein destabilisierendes Gegengewicht darstellen zur bürokratischen Homogenisierung der Wissensformen (vgl. ebd., 5), dieser intimen Beziehung einer »hegemonic structure of consciousness and especially of visual surveillance« (ebd., 266). Die Kontingenz der Moderne zeigt sich in ihrer regen Tätigkeit klassifizierender Normalisierung:
»All signs, linguistic and other, are arbitrary, in that they have no necessary relationship with nature. They may acquire a sense of being ›natural‹, as Bourdieu, Foucault and others have observed. The ›naturalization‹ of a citizen is in fact as purely cultural an act as it is possible to imagine.« (ebd., 267)
Der Common Sense, ein vielköpfiges Ungetier: Gleichzeitig eine Blockade für intellektuelle Praxis und ebenso das Werkzeug, um diesen Mechanismus zu analysieren. Da in interdependenten Gesellschaften Institutionen oder Medien Erklärungen von Natürlichkeit vervielfältigen, lässt sich Common Sense auch mit den »ideologischen Staatsapparaten« von Althusser (1973) verknüpfen, da diese nicht nur mit Zwang, sondern auch mit freiwilligen Unterwerfungen »funktionieren«. Den Individuen werden bestimmte Praktiken und Rituale auferlegt, durch die sie sich selbst zu unterworfenen Subjekten machen. Dabei dreht Althusser das Wirkschema, demzufolge Ideologie/Glaube erst Handlung generiert, um und sieht Ideologie und Glaube als Resultat materieller Handlungen (vgl. Althusser 1973, 154).

Die Fabrikation von Konsens
Hegemonie im Sinne von Antonio Gramsci bedeutet weniger Inkorporierung (vgl. Hall 1994, 85), als die Schaffung von Konsens. Laura Nader begeht einen ähnlichen Weg. Sie bezieht sich in ihrer Analyse von »Controlling Processes« auf »kulturelle« Kontrolle und Steuerung als eine Form, um Konsens zu erzeugen:

»Cultural control when it is hegemonic is impersonal, embedded, and often invisible, and even those who in fact exercise it may not understand its extent, thinking of it as only marketing« (Nader 1997, 720).52
Nader bringt diese Ambivalenz in dem doppelseitigen Begriff »coercive harmony« (Nader 1997, 712) zum Ausdruck als eine Tendenz, Konflikt-Felder zu harmonisieren. Zwang und Konsens schließen sich nicht aus. Effekt: Es wird schwieriger zu differenzieren zwischen konsensueller Kontrolle und Konsens als Kontrollfunktion (vgl. ebd., 719). Die Verbindung von Wissen und Macht führt zu dem, was als Wahrheit akzeptiert wird [»way of conceptualizing society«]:
»What we see depends on what we know. What we know depends in part on how knowledge or knowing is produced and by whom and when and how it is filtered by experience« (ebd., 721).
Michael Burawoy stellte seiner Ethnographie in der Produktion eines multinationalen Unternehmens die Frage voran: »Why do workers work as hard as they do?« Das war der Fokus der »labour process debate« der 1970er Jahre, denn die Entweder-oder-Perspektive der Organisationssoziologie auf Harmonie vs. Zwang bot keine befriedigende Antwort mehr, warum der kapitalistische Produktionsprozess eigentlich funktioniert. In der Fabrikhalle gewann Burawoy die Erkenntnis, dass Konsens aktiv innerhalb des Arbeitsprozesses produziert wird. Die Arbeitenden kreierten das Spiel des »Making Out«, das die Akkordarbeit erfolgreich strukturierte. Täglich galt es die die Bestmarke zu erreichen: durch Anfertigung von hilfreichen Werkzeugen, der Manipulationen an Maschinen, aber auch psychologischen Tricks in der Interaktion mit Vorarbeitern und Zulieferern - also der Aneignung von verschiedensten »skills«. Als Burawoy nach Wochen in der Fabrik die subtilen Mechanismen des Spiel »checkte«, gewann auch er den Kampf gegen die langsamen Zeiger der Werksuhr, die Arbeitszeit ging einfach schneller vorbei. »Making Out« generiert so Konsens und verlagert die Konflikte auf die Ebene der teilnehmenden Akteure statt einem Antagonismus zwischen ArbeiterInnen und Firmenleitung:
»The very activity of playing a game generates consent with respect to its rules. The point is more than the obvious, but important, assertion that one cannot both play the game and at the same time question the rules.« (Burawoy 1979, 81)
So rückt je nach Art der Fragestellung entweder das Schmieröl oder der Sand im Getriebe in den Fokus. Insofern sollten die Fragen »Warum funktioniert das?« und »Wie funktioniert das?« sich nicht gegenseitig blockieren. Sonst kann die konsensuelle Harmonie die Konfliktfelder überdecken. Gerade wenn die angewandten Normen in einer Institution sich nicht von der sie umgebenden Gesellschaft unterscheiden, sondern sich gegenseitig beeinflussen.53 Umgekehrt kann eine alleinige Konzentration auf die Suche nach Widerständen oder Sabotagemomenten den Blick darauf verstellen, warum die Maschinen meistens laufen, warum die Akteure »mitspielen«. Im folgenden Kapitel will ich diese Fragestellung am Thema der Alltagspraktiken fortführen.

IV.2 Alltag: ein gar widerspenstig' Ding oder eine Herrschaftsform

Die Perspektive auf Alltag und Lebenswelt eröffnet den Blick auf Mikro-Praktiken von Akteuren. Alfred Schütz und Thomas Luckmann konstatieren, dass die »alltägliche Wirklichkeit der Lebenswelt« meist ein Befinden in einer Situation ist, die »nur zu einem geringe Teil eine rein von mir geschaffene ist« (Schütz & Luckmann 1979, 27). Für Einübung von Konformität sind dabei Routine-Abläufe als Teil einer »sekundären Sozialisation« (Berger & Luckmann 1970, 159) wichtig.54 Im Alltag mit der Elektronischen Fußfessel können die Überwachten die Struktur dieses Alltags zwar mit ausarbeiten, aber bestimmte Vorgaben (Mindest-Arbeitszeiten, abendliche Ausgangsperre) müssen erfüllt werden und die ewige Wiederkehr des Gleichen müssen sie dann selbst - ohne Abweichungen - gewährleisten. Welche Spielräume oder Taktiken lässt solch ein Alltag noch zu? Was daran ist noch »Eigenes« im Alltag und was nur Fremdbestimmung? Diesem Spannungsfeld lässt sich mit zwei recht unterschiedlichen Theoretikern des Alltags nähern.

Lefebvre und de Certeau: Kritik des Alltags vs. Taktik und List
Henri Lefebvre steht für die Position der Kritik des Alltagslebens. Durch einen erweiterten Produktionsbegriff im Sinne des jungen Marx auf die »Produktion des menschlichen Seins« (Lefebvre 1972, 48f.) und der daraus folgenden Entfremdung sieht Lefebvre das Alltagsleben nur noch als Produkt von Konsumstrategien und Planungsrationalität, es wird so »in kurzer Zeit zum Einheitssystem« (ebd., 105). Christian Sälzer kennzeichnet Lefebvres Alltagskritik mit »Herrschaft als Trott« (Sälzer 2000, 52), letztendlich werden die Zwänge dieses Alltags sogar als Freiheit akzeptiert:

»Die Herrschaft der Zwänge verengt dabei das Mögliche auf das Gegebene, es schließt den Horizont des Wünschbaren oder denunziert es als irrational. [...] Auf diese Weise werden die latenten Widerspruchs- und Aneignungspotentiale bis an die Grenze getrieben, hinter der sie verschwinden. Möglich erscheint nur noch, was wirklich ist.« (ebd., 56).
Einen ganz anderen Blickwinkel nimmt Michel de Certeau ein. Er sieht in den Praktiken des Alltäglichen eher ein Scheitern einer determinierenden Ordnung. Dabei interessiert er sich für den konkreten Gebrauch von Dingen durch Akteure. Konzentriert sich Lefebvre auf das, was die Waren mit den Menschen machen, interessiert sich de Certeau dafür, was die Konsumenten mit den Waren machen, »die Art und Weise des Gebrauchs« (de Certeau 1988, 86, kurs. i. O.). Wird bei Lefebvre das Alltagsleben von den Strategien unterworfen, so führt de Certeau den Begriff der »Taktiken« (ebd., 21ff.) ein, als Bewegung ohne eigenen Ort, die von Gelegenheiten profitiert, »innerhalb des Sichtfeldes des Feindes«:
»Sie [die Taktik] muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.« (ebd., 89)
Der Einsatz der Taktiken ist also abhängig von den Dispositionen des Ortes und der Situation (vgl. ebd., 91f.). Gebündelt bilden die Praktiken und Listen »das Netz einer Anti-Disziplin«.55 Allerdings unterliegt der Arbeit von de Certeau stellenweise ein allzu euphorischer Widerstandsbegriff, der oft auf einer Wunsch-Ebene bleibt und sich dabei stark auf eine Feindbestimmung in den Disziplinen des fordistischen Regimes konzentriert.56

Während Lefebvre die »Totalität« des Alltags beschäftigt, die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, stellt de Certeau demgegenüber die Heterogenität von Praktiken der Aneignung bereit und konzentriert sich auf die kleinen Erfolge der Subversion. Allerdings liegt in einer allzu affirmativen Rezeption de Certeaus die Gefahr einer zu leidenschaftlichen Akteursperspektive, die aus jeder Praxis das Kreative herauspressen will oder darin sofort Devianz oder Widerstand sieht. Problem dieser Dialektik Theorie/Lebenswelt: Schweife ich durch die Stadt mit der »de-Certeau-Brille« fällt mein Blick auf die hier und dort aufblitzenden kreativen oder abweichenden Praktiken, die fernab jeglicher Bestimmung und Verfügung mit architektonischen oder anderen Benutzungsoberflächen gar lustig Schabernack treiben. Fahre ich mit Lefebvre im Berufsverkehr U-Bahn verhärtet sich der Eindruck, dass die »Maschine« rollt. Bei Lefebvre ist Widerstand gegen die Entfremdung des Alltags nur möglich im Bruch mit eben dieser Normalität. Bedingung ist dabei zumindest die Bewusstheit über die Entfremdung als Schritt zur Befreiung (vgl. Lefebvre 1977, Bd. 3, 36). »Im Gegensatz dazu ist die List eine Möglichkeit für den Schwachen« (de Certeau 1988, 90). Ich plädiere daher für ein relationales bzw. situatives Verständnis der zwei Konzepte, auch in Bezug auf das Verhältnis Theorie/Praxis. Probleme lassen sich zuerst mit Feinwerkzeug anschauen: Wenn kein eigener Ort da ist, bietet es sich an in den Netzen der Anti-Diziplin, im »Ort des Anderen« (ebd., 89) zu agieren. Manchmal kann der Einsatz eines Vorschlaghammers aber durchaus Sinn machen, um verhärtete Totalitäten aufzubrechen.57 Manfred Faßler bezieht sich mit dem Begriff »Gegenwartstaktik« auf de Certeau, bezeichnet damit aber »zunächst das sichtbare Handeln zwischen Funktionsanforderungen und Integrationsmodi und erst im zweiten Schritt die Kunst des Eigensinns gegen die Affirmation« (Faßler 1991, 18). Als ein Austarieren zwischen den Selbstregulierungen der bürgerlichen Gesellschaft und Widerständigkeiten gegen Kleinteiliges, was immer noch als »Disziplinen« verstanden wird (vgl. ebd., 44). Die Fragestellung wird aufrechterhalten: Im nächsten Abschnitt geht's um Technik in einer Analytik zwischen Technikdeterminierung und benutzerpraktischer Aneignung.

IV.3 Technik, Benutzeroberflächen, Gebrauchs(wert)anweisungen

Technische Artefakte fallen nicht vom Himmel, sondern sind von ihren DesignerInnen in einer bestimmten sozialen und politischen Situation zusammengesetzt worden und darauf ausgerichtet, bestimmte Verhaltensweisen zu erzeugen oder sie zu verhindern, sie lassen sich als »socio-technical-system« einordnen (vgl. Beck 1997, 213ff.). Auch ein architektonisches Ensemble ist solch ein System. So kommuniziert die neue Frankfurter Universitäts-Maschine im ehemaligen IG-Farben-Haus ihre Gebrauchs(wert)anweisungen mehr oder weniger direkt an die NutzerInnen: permanenter Putz-Service soll wildes Plakatieren und Graffitis ausschließen (oder sofort entfernen). Mehr oder weniger implizite »Benimmregeln« (Plakate des Studentenwerks) kombinieren sich mit Verunmöglichungen von abweichenden Verhalten wie angeketteten Stühlen auf der Dachterrasse oder Brettern auf den Simsen der Cafeteria-Fenster. Allerdings scheinen die elektronischen Systeme am labilsten zu sein, wie die elektronischen Diebstahlsicherungen an den Ausgängen der Bibliotheken. Doch gerade dieses System verlangt wieder nach dem Einsatz von Menschen oder verlässt sich auf die soziale Kontrolle unter seinen NutzerInnen, die aber ob der zahlreichen Fehlalarme meist mit Desinteresse reagieren.

Technik wurde in den Sozial- und Kulturwissenschaften meist verstanden als autonomer, Verhalten determinierender Faktor (ebd., 69), eher als Anpassungs-, weniger als Aneignungsprozess (ebd., 71). Stefan Beck nimmt einen Perspektivwechsel ein, der ermöglicht Mensch/Maschine nicht als unbedingten Gegensatz, sondern auch als Einheit, welche die Maschine erst konstruiert, zu betrachten. Dieses von Deleuze und Guattari bevorzugte System unterscheidet sich durch Kommunikation zwischen ihren beiden Teilen vom System Werkzeug, das lediglich eine Verlängerung des Körper- und Bewegungsschema ist: »Ein und dasselbe Ding kann Werkzeug oder Maschine sein« (Deleuze & Guattari 1977, 500).

IV.3.1 »Kon-Text« und »Ko-Text« technischer Systeme

Beck unterscheidet für eine Analytik des Umgangs mit Technik zwischen dem Kon-Text und dem Ko-Text der Technik, die entscheidend dafür ist, ob Technik eher als »hart«, also als die Alltagssphäre kolonisierende Form auftritt, oder eher als »weich« in ihrer Aneignung durch die NutzerInnen skizziert wird (Beck 1997, 195f.). Ist mit Kon-Text vor allem das »Objektpotential« der Technik gemeint, so bezieht sich Ko-Text auf die Art ihrer Benutzeroberflächen und ihrer Gebrauchsanweisungen sowie den »Gebrauchs(wert)anweisungen« (ebd., 362). Das sind entweder die Vorstellungen der EntwicklerInnen zum Einsatz des Artefakts oder die sich durch die NutzerInnen herausbildenden Möglichkeiten. Beck unterscheidet zwischen drei Ordnungen von Technik zur Darstellung und Analyse der Nutzungsbedingungen. Wird Technik als Verlaufssouverän konzipiert, so folgt daraus eine »Automatisierung des Sozialen«: »Handeln erscheint hier nur noch möglich als Abrufen vorprogrammierter, in den technischen Spezifikationen der Geräte zugelassenen Optionen« (ebd., 208). Technik als »Gußform«, als »totale Institution« konzipiert, hat zur Folge: »Der Nutzer kann sich nur noch verhalten, jedoch nicht mehr handeln« (ebd., 211). Beck kritisiert derartige Sichtweisen als die Handelnden völlig ausschließend.58 Ihn interessieren dagegen neben den intendierten auch die unintendierten Handlungs-Anweisungen und Restriktionen und mögliche Gegenstrategien, dem »stahlharten Gehäuse« auszuweichen oder zu entkommen (ebd., 218). Durch die zunehmende Dominanz des tertiären Sektors verliert diese Metaphorik an Bedeutung, Technik wird zunehmend auch als Medium, Schnittstelle oder als Text gelesen. Bei dieser zweiten Ordnung rekurriert Beck auf phänomenologische Betrachtungsweisen, welche das traditionelle Körperschema erweitern. So wechselt das Seh-Werkzeug Brille beim Benutzer vom Status der »Vorhandenheit« in die Position der »Zuhandenheit« in vermittelnder Position zwischen Beobachter und Beobachtetem (Beck 1997, 250f.). Es folgt eine Gewöhnung an das technische Artefakt und damit ein Verschwinden desselben aus dem eigenen Wahrnehmungsfokus als Fremdkörper - es kann gar zu einer eigenen Sinneszone werden:

»In welcher Weise wird Selbst- und Weltwahrnehmung durch den Gebrauch technischer Artefakte techno-kulturell eingeformt? Technische Artefakte sind komplex in ›socio-technical systems‹ eingebunden und verweisen damit auf soziale und ökonomische Strukturen wie auf kulturelle Wertsysteme, mit denen diese Systeme diskursiv legitimiert werden.« (ebd., 256f.)
Als dritte mögliche Konzeption von Technik konzentriert sich Beck auf »Handeln als Praxis«. Dabei greift er die Situierung des »technological drama« von Bryan Pfaffenberger auf, welche sich zwischen den Statements von Systemarchitekten und den Counterstatements der Nutzerinnen abspielen. Erstere versuchen, Regulationsstrategien zu entwerfen: Exklusionsordnungen, welche den Zugang zu Technik regulieren, Standardisierungen von Praxen und technische Sicherungen, die von den NutzerInnen ein bestimmtes Verhalten abfordern (»Delegation«), wie etwa ein Piepston in Autos, falls der Sicherheitsgurt nicht angelegt ist (ebd., 284). Allerdings weist diese Regulation oft Lücken oder Unstimmigkeiten auf, welche den Akteuren situativ die Möglichkeit von Taktiken gegen diese Strategien bieten (vgl. de Certeau 1988, 89ff.) - oder wie die Aneignung der technischen Artefakte oder »counter-delegation«, die Überwindung von technischen Sicherungen oder Sperren, mit denen ein systemkonformes Verhalten erzwungen werden soll, zum Beispiel im Manipulieren von Warntönen oder dem Knacken von Passwörtern (Beck 1997, 285). Eine Folge davon kann »technological reconstitution« sein, beispielsweise die Geschichte der anfänglichen Entwicklung des Personal Computers in Garagenfirmen (zur Ermöglichung eines breiteren Zugangs zu dieser Technik) hin zu einem der erfolgreichsten Massenprodukte der Spätmoderne. Beck plädiert für eine komplexe Situationsanalytik von »Technik als Ko(n)-Text der Praxis«. Anhand der Achse Technik als Orientierungskomplex/Technik als Nutzungskomplex können so sachtheoretische und praxistheoretische Perspektiven zusammen in den Blick genommen werden. Anhand der Achse Ko-Text/Kon-Text ist es möglich zwischen den »harten« und den »weichen« Nutzungsoptionen zu unterscheiden. Auf der Seite von Technik als Orientierungskomplex konstatiert Beck für besonders harte Einstellungen des Kon-Textes:
»Sozio-technische Systeme sind in der Regel so konstruiert, daß sie den Nutzer in einer zuvor festgelegten Weise nicht nur in Raum und Zeit positionieren trachten, sondern auch soziale Positionen für sie festzuschreiben versuchen« (ebd., 350).
Technik als Nutzungskomplex wiederum konzipiert Technik als Aneignungsereignis sowie als Tat-Sache, als Routineereignis und den körpergebundenen Charakter der Wahrnehmung. Eine ko-textuelle Dimension ist hier die Rolle von vielstimmigen Diskursen für den Umgang mit Technik:
»Neben den politischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Diskurssysteme finden somit auch auf der Nutzungsebene symbolische Kämpfe statt, in denen unterschiedliche Umgangsweisen mit Technik zu sozial und kulturell bedeutsamen Praxen transformiert werden. Umgang mit Technik erfordert deshalb nicht nur Kompetenz, Fähigkeit- und Fertigkeiten in der Nutzung der materiellen Bestandteile technischer Artefakte, sondern auch ein komplexes Wissen um deren - oft umstrittene - Bedeutungsdimension.« (ebd., 345)

IV.3.2 Die elektronische Überwachungs-Maschine

Wie lässt sich eine elektronische Überwachungstechnik hier einordnen? Ist sie eine »Maschine der dritten Art«, wie Deleuze behauptet und was soll das überhaupt sein? Da sie nicht mit einer Kamera kombiniert wird, fällt sie nicht unter visuelle Überwachung. Eine akustische Überwachung ist es auch nicht, diese wird eher als Ermittlungstechnik eingesetzt.59 Da die Fessel direkt am Bewegungsapparat angeschlossen wird, ließe sich die Überwachungsart vielleicht mit dem Kunstgriff »kinästhetische Überwachung« charakterisieren. Wobei dies eher eine Zielbestimmung wäre, denn dazu müssten die Überwachten sie derart in ihre Handlungsroutine und Weltwahrnehmung internalisieren, dass sie eigentlich nicht mehr nötig wäre. Doch Deleuze fügt auch an: »Aber die Maschinen erklären nichts, man muß die kollektiven Gefüge analysieren, von denen die Maschinen nur ein Teil sind« (Deleuze 1993a, 251) - also mit Beck die Beweggründe der Entwicklerinnen, Auftraggeber und Anwenderinnen, die sozio-technischen System zugrunde liegen. Die Elektronische Fußfessel ist ein solches System, dass nur eine bestimmte Konfiguration von »Nutzer« und Gerät zulassen soll. »Nutzer« ist in diesem Fall ironisch zu verstehen, da eine abweichende, kreative Nutzung den Widerruf der Bewährung zur Folge hätte. Es macht einen sehr großen Unterschied, ob es sich bei dem technischen Artefakt um ein Produkt des Massenkonsums handelt oder um ein elektronisches Überwachungsgerät. So ist es zwar nicht im Sinne der Entwickler oder der Herstellerinnen, wenn mit einer Küchenmaschine elektronische Musik erzeugt wird (und Gebrauchsanweisungen schließen Garantieleistungen bei »Fehl-Nutzungen« auch konsequent aus), aber die Konsumentinnen sind letztendlich frei in ihrer Entscheidung dies zu tun. Baut ein elektronisch Gefesselter seine Kontroll-Apparatur um zu einer Steuerung für Modellautos oder zur Zeitschaltuhr für eine Bewässerungsanlage, so wird er für diese »Counterstatements« nach momentaner Gesetzeslage ins Gefängnis kommen. Auf der Ebene des Ko-Textes wird allerdings die Vielstimmigkeit des Diskurses interessant. So, wer in der Diskussion um Überwachungs-Technik mit welchen Metaphern arbeitet, denn dystopische Modelle bieten sich genug an: Kafkas »Schloss-Maschine«, die den Protagonisten in endloser zermürbender Ungewissheit hält, den absoluten Verlust von Privatheit durch die totale Überwachung in George Orwells »1984«, die Situation eines Ständig-Gesehen-Werdens im »Panoptikum« oder der Verlust städtischer Öffentlichkeit in einer segmentierten »City of Quartz« (Mike Davis). Satelliten-Systeme à la GPS oder Galileo lassen solche totalen Überwachungsszenarien aber näher rücken. Im hessischen Projekt werden die Personen nur in ihrer Wohnung geortet. Außerhalb der Wohnung ist also auch außer Reichweite des »Tracking«; es bestünde die Möglichkeit des Abtauchens im Raum.

IV.4 Bewegung in Raum und Zeit

Bisher habe ich die Disziplinen mit der Kategorie Zeit verknüpft. Bezogen habe ich mich dabei auf Disziplinierungen und Normalisierungen, die in Zeitabläufe eingreifen und damit die kapitalistische Arbeitsdisziplin in Form einer »methodischen Lebensführung« fabrizieren. Manfred Faßler nennt als Grund für die Erzwingung von Zeithomogenität in der Moderne die »Verlaufssouveränität«.60 Diese befindet sich zwar durch De-Industrialisierung im Transformationsprozess, aber bestimmte Verhaltenssynthesen wirken noch nach:

»Sie bedürfen etlicher politisch-erzieherischer Sicherungen, einer strategisch festgelegten Vermittlung, deren klarste Formen die Totalisierung und die (nach außen verlagerte) Zeit-Homogenität sind« (Faßler 1991, 49, kursiv i. O.).61
Was hat die Fußfessel mit Konzepten des Raums zu tun, wie wird der Raum eingeschränkt? Gegenüber einem auf Newton zurückgehenden absoluten Verständnis von »Raum als Behälter aller körperlichen Objekte« bildete sich in der Naturwissenschaft auch ein Verständnis von Raum »als eine Art relationale Ordnung körperlicher Objekte« heraus, das Einstein in der Relativitätstheorie als »Raum-Zeit-Kontinuum auffasst« (Läpple 1993, 33ff.). In einer Übertragung dieses Modells ist der gesellschaftliche Raum dann
»nicht nur ein ›Umraum‹ der handelnden Menschen, sondern schließt sie in ihrer eigenen Leiblichkeit, ihren räumlichen vermittelnden Interaktionen und ihren Ausdrucks- und Verwirklichungsformen mit ein« (ebd., 43).
Das räumliche Handlungsfeld der Überwachten beschränkt sie zu bestimmten Zeiten auf den Aufenthalt an einem bestimmten Ort (der Wohnung). Ein Großteil ihres weiteren Bewegungsradius ist zudem festgelegt durch feste Arbeits-Orte (und den Weg dorthin), nur in ihrer knapp bemessenen Freizeit haben sie die Möglichkeit der freien Orts-Wahl. Dadurch, dass diese Zeiträume knapp bemessen sind, wird man jedoch kaum in eine andere Stadt fahren können. Der Bewegungsradius beschränkt sich also auf einen sehr lokalen Raum oder einen »konkreten Ort« (ebd., 49) der individuellen Lebenswelt. Die Disziplin ist nach Foucault eine anti-nomadische Technik (vgl. Vitores & Domènech 2003, 5). Das heißt nicht, Individuen durch Electronic Monitoring keine Mobilität einzuräumen, aber es ist eine verwaltete Mobilität und kein im weitesten Sinne »Nomadisch-Sein«, was auch bedeuten könnte, sich diesen Kontrollen zu entziehen.62 Elektronische Überwachung kann so als Verlängerung des Einschließungsmilieus Gefängnis betrachtet werden, wobei es schwierig zu differenzieren ist, ob das Zuhause nun als Gefängnis funktioniert oder ob sich der Knast in ein »laufendes Gefängnis« konvertiert (vgl. ebd., 7). Anna Vitores und Miquel Domènech schlagen deshalb vor, da sich Electronic Monitoring nicht mit einer Institution und einem Gebäude identifizieren lässt, eine Betrachtungsweise des Raumes einzunehmen, welche die Differenz zwischen stabiler Lagerung oder Inventarisierung [stock] und dem Fließenden [flux] auflöst:63
»A tag is in a sense the site for storage, what enables to gather, not persons, but information about those persons. But the tag is at the same time what enables movement, the condition of movement. Thus the tag translating everything into information makes stock and flux the same thing. [...] In short, to keep in order is not to keep in place.« (ebd., 8)
Flüssige Disziplinierung statt fester Institutionalisierung: eine größere Ausdehnung im Raum. Die Metapher einer absoluten Kontrolle im Raum wäre mit einem gasförmigen Aggregatzustand erreicht, denn Gase dehnen sich komplett im Raum aus. Allerdings können sie rein physikalisch einen kritischen Zustand erreichen (Plasmabildung), was auch diesem dystopischen Szenario noch einen Ausweg böte.

Einen großen Unterschied macht hierbei, wie schon in vorherigem Kapitel angesprochen, ob das »Monitoring« oder »Tagging« mit »Tracking«, also der Ortung durch ein Satellitensystem verbunden wird. Das würde die auf zehn Meter genaue Ortung der Individuen im Raum ermöglichen und damit die Möglichkeit einer totalen Kontrolle über deren Bewegungen im Raum akquirieren. Der Ort, der beim jetzigen System als binäre Information Anwesenheit/Abwesenheit (IN/OUT) erfasst und abgeglichen wird, ist das Zuhause der Gefesselten, der Ort, der mit Privatheit oder Familie assoziiert werden kann. So wird der Bereich außerhalb der Wohnung, der öffentliche oder gesellschaftliche Raum, zum »Draußen«, der temporär »verbotenen Zone«. Und für alle gilt hier eine Ausgangsperre während der dunklen Nachtzeit. Doch die Nichtausstattung mit Satellitenortung hat nicht nur technisch-finanzielle Gründe. Sie wird selbst von Mehrheiten der Anwender abgelehnt und ist heftig umstritten. Aber dazu mehr im empirischen Teil dieser Arbeit.

(Vor-)Ausblick
Hier schließt sich der Kreis und ich befinde mich wieder bei den Überlegungen, inwieweit das Projekt Elektronische Fußfessel dem Entwurf einer »surveillant assemblage« (vgl. Haggerty & Eriscon 2000) entspricht. Erzählte ich Freundinnen und Freunden von meinem Thema, gingen sie intuitiv meist davon aus, dass hier Satelliten-Ortung eingesetzt wird. Nachdem ich das verneinte, folgte öfter die Frage: Und was soll das dann?

Dieses Paradox begründete diesen ausführlichen Durchlauf durch die Disziplinar-Techniken. Das von mir erforschte Gefüge hat zwar Bestandteile von neuen Kontroll-Techniken, aber die Assemblage ist zu Großteilen noch eine Mischform von alter und neuer Pönologie und wechselt von festen zu teils flüssigen Aggregatzuständen. Diese Spur soll jetzt anhand meiner Ethnographie weiter verfolgt werden, die vielleicht mehr dazu beitragen kann, »was das jetzt eigentlich soll«.

 

up

49 Dies ist nur eine sehr grobe Annäherung. Kirsten Hastrup verneint die Gegebenheit von Regeln oder Bedeutung in Kultur. Das würde Sozialisation reduzieren zu einem »process of getting the original through the fax machine« (Hastrup 1995, 80). Auch wenn es Grenzen und Dispositionen gibt, betont sie die Handlungsperspektive: »Actions are, actually ›acts‹, allowing for improvisation as well as shared comprehension« (ebd.); und grenzt die anthropologische Perspektive auf Gesellschaft ab vom Rational-Choice-Modell. Sie setzt dagegen in Anlehnung an die performative Anthropologie die Betonung auf Handlung [agency], deren Ausgangspunkt nicht nur der Verstand [mind], sondern auch der Körper als Ort der Erfahrung [experience] ist (vgl. ebd., 81ff.).

50 Ein schönes Beispiel für eine Schnittstelle, wo »Un-Methodischheit« und »Dünnheit« von durch Common Sense bestimmtem Alltagswissen von Wissenschaft (hier der Kriminologie) populistisch rezipiert werden, ist das Konzept der »Zero Tolerance«, der Name eines »Säuberungsprogramms« des New Yorker Polizeipräsidenten William Pratton. Es rekurriert auf den so genannten »broken windows«-Ansatz (vgl. Ronneberger, Lanz & Jahn 1999, 133ff.): Wo schon etwas kaputt oder verdreckt ist, lädt dies andere ein, damit fortzusetzen. Das oftmalige Erheben von solchen Trivialitäten und Volksweisheiten in den Status einer »Theorie« kritisieren auch Cremer-Schäfer & Steinert an der populistischen Kriminologie (vgl. Cremer-Schäfer & Steinert 1998, 228ff.).

51 Die Selbstverständlichkeit früh aufzustehen gründet sich zwar nicht auf den Common Sense, sondern auf den Produktionsverhältnissen, ummantelt sich aber mit den ewigen Weisheiten »Morgenstund hat Gold im Mund/Was du heute kannst besorgen/...etc.« oder in moderner Form mit einer Argumentation durch Gesundheit und Ausgewogenheit (Bio-Rhythmen) und wird zur Rationalität des Handelns. Dieser Bereich berührt dann auch die Frage von gesellschaftlicher Anerkennung durch wirkliches körperliches Erfüllen der Sprichwort-Anweisungen.

52 Kulturelle Kontrolle verbreitet sich, da die meist sichtbareren Formen der sozialen Kontrolle weniger akzeptabel werden. Sie ist effektiver und tritt als »control of the mind« (Nader 1997, 719) auf.

53 Goffman bezeichnet dies als »Permeabiliät« oder »Durchlässigkeit« von Institutionen (vgl. Goffman 1972, 118). Er meint hier totale Institutionen, allerdings denke ich, dass sich die Variable der Permeabilität auch in offeneren Institutionen oder Maßnahmen untersuchen lässt, die sich mit Althusser als »ideologische Staatsapparate« oder mit Deleuze als Gefüge/Maschinen (»assemblages«) identifizieren lassen.

54 Gegenüber einer primären Sozialisation, die eine unausweichliche Wirklichkeit internalisiert, beispielsweise das Schamgefühl (weshalb wir nur selten nackt umherlaufen), sind die Internalisierungen der sekundären Sozialisation verschiebbarer, wie zum Beispiel bestimmte Garderobevorschriften (Krawatte) (vgl. Berger & Luckmann 1970, 157ff.). Verwandlungen sind durchaus möglich, sie fordern eine Re-Sozialisation und einen neuen Legitimationsapparat für diese Transformationsleistung, also eine Re-Interpretation der Vergangenheit, was sie von der sekundären Sozialisation unterscheidet, welche an die Vergangenheit anknüpft (vgl. ebd., 167ff.).

55 De Certeau ist ein entschiedener Kritiker Foucaults, dessen Machtanalyse er an vielen Stellen übernimmt, aber darin das Fehlen bzw. die Unmöglichkeit von Widerstand reklamiert als ein Fehlen der zahlreichen anderen Praktiken und Prozeduren, die neben der »panoptischen Maschinerie«, aber ohne eigenen privilegierten Ort funktionieren (vgl. de Certeau 1988, 112).

56 So wenn er die Widerstände von Arbeitern betont, sich während der Arbeitszeit an den Maschinen nutzlose Dinge herzustellen, um am eigenen Know-How zu arbeiten (vgl. ebd., 71f.). Was de Certeau hier wahrscheinlich noch nicht ahnen konnte, dass solche Taktiken in Teilen der postfordistischen Produktion integriert werden, sie gar von den Arbeitenden als »skills« vorausgesetzt oder gefordert werden.

57 Ein Problem bei den Alltagstheorien scheint mir auch zu sein, dass ihre Betonung eher auf dem Warenfetischismus der Konsumgesellschaft als im Bezugsrahmen auf die Produktionsverhältnisse innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung liegt, welche auf die individuellen Körper wirken (vgl. Poulantzas 2002, 94). Produktionsweise umfasst dabei auch die »Settings« von Arbeitsverhältnissen, deren Abkehr von den alten Disziplinen überschätzt wird. In Frankfurt am Main wurde das Ritual des »Casual Friday«, bei dem die Krawatte auch mal gelockert wurde, weitgehend wieder abgeschafft

58 Beck weist hier auch auf den Unterschied zwischen Verhalten als der Domäne der Psychologie und Handeln als dem disziplinären Gegenstand der Soziologie hin (vgl. Beck 1997, 211). Alltägliche Routine oder habituelles Verhalten zählt Beck hier genauso zum Bereich des Handelns in Form von »tacit knowledge«, einem körperlich gemerktem Wissen, welches kinästhetisch (über die Nerven ausgeführtes und im Gedächtnis senso-motorisch abgespeichert) erworben ist (ebd., 269ff.), einem »practical counsciousness« nach Giddens (ebd., 331) sowie als Unschärfe oder »Kontingenzannahme« nach Sally Falk Moore (ebd., 345). Dabei betrachtet er den Körper mit Bourdieus Begriff der »Hexis« als »verkörperlichtes Depot sozialspezifischer Handlungsnormen«. Versteckte Imperative, wie »Nimm das Messer nicht in die linke Hand!« sind Indikatoren für diese Routine-Praktiken (ebd., 271). Mit der Etablierung des Begriffs »Praxis« gelingt es Beck dabei, die Gleichzeitigkeit von Handlung stabilisierenden wie entstabilisierdenen Elementen zu analysieren: »Praxis wird dabei verstanden als die zwischen extremen Polen von Routine und Kreativität liegenden, alltäglichen Handlungsmuster der Nutzer technischer Artefakte« (ebd., 294f.).

59 Das Abhören von Telekommunikation ist in der Spätmoderne wohl die häufigste Überwachungsmethode. Öffentliche Kameras sind deutlich wahrnehmbar und deshalb mehr in der Diskussion. Die Kontrolle durch akustische Überwachung ist den Techniken der Observation zuzurechnen. Eine Forschung des Max-Planck-Institutes hat dem Bundesjustizministerium die Effektivität der Telefonüberwachung bescheinigt, als für einige Bereiche der Strafverfolgung unerlässliches und einziges Mittel (vgl. Bundesministerium der Justiz 2003). Ein Frankfurter Rechtsanwalt berichtete mir, dass immer mehr seiner Klienten wegen abgehörten (Mobil-)Telefon überführt werden.

60 vgl. auch bei Poulantzas: »Diese segmentierte, serielle und aufgeteilte Zeit stellt nun das neue Problem ihrer Vereinheitlichung; auch diese Rolle fällt dem Staat zu. Der moderne Staat muss sich die Herrschaft und Kontrolle über die Zeit sichern, indem er Norm und Maß setzt und so den Bezugsrahmen für die Variationen der einzelnen Zeitformen schafft; er regelt Vorlauf und Verspätungen und rastert ihre Unterschiede.« (Poulantzas 2002, 145f., kursiv i. O.)

61 Bei Faßler lösen sich diese Verhaltenssynthesen in der Nach-Moderne durch Informatisierung auf: »Computertechnologien verlagern etliche traditionelle Subjektivitätsformen (Pünktlichkeit, Genauigkeit, hohe Konzentration, Zuverlässigkeit...) in die Maschine und rücken gleichzeitig in den Menschen ein. Sie begnügen sich nicht mit muskulären, fein-grobmotorischen, intersubjektiven Organisations- und Synthetisierungsleistungen, sondern simulieren die ausgewählte Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns [...] Es ist die Konstruktion des ideellen Gesamtmenschen im Netzverbund und, wie alle ideellen Konstruktionen, ein metaphysisches Unternehmen« (Faßler 1991, 153). Das sehe ich an dieser Stelle aber nicht als Widerspruch, denn die Spätmoderne ist voll von der Gleichzeitigkeit verschiedener Dispositionen, welche zwar meist klassifizierend aber eher kontingent im Einsatz sind.

62 »Nomadisch-Sein« bedeutet nicht unbedingt die permanente Nutzung von Flughäfen und Bahnhöfen, sondern ist auch ein Prinzip des Umherschweifens (eher in seiner unorganisierten Form wie bei den Siutationisten als in Walter Benjamins Figur des »Flaneur«) oder des Sich-Entziehens vor Kontrollen, eher im Sinne von de Certeaus »List« in der »Anti-Disziplin«.

63 Vitores & Domènech beziehen sich hierbei auf Zygmunt Baumanns Metapher von der Flüssigkeit der Moderne, in der sich Raum und Macht-Konzeptionen zwar nicht auflösen, aber sich in ihrer soliden Bedeutung verändern. Die beiden identifizieren elektronische Überwachung so auch als näher an Vorstellungen von Kontrollgesellschaft als an Vorstellungen von Disziplinargesellschaft (vgl. Vitores & Domènech 2003, 7ff.).

» V