Planet of Slums

Elendsurbanisierung im "goldenen" Zeitalter der Globalisierung

Anfang der 1950er Jahre gab es 86 Städte mit einer Einwohnerzahl von mehr als einer Million. Heute sind es bereits über 400, im Jahr 2015 wird es voraussichtlich mindestens 550 Millionenstädte geben. Die allermeisten davon befinden sich in den Ländern des Trikont - also Afrika, Asien und Lateinamerika. Jeden Tag ziehen 1,3 Millionen neue Einwohner in die Städte, etwa 70 Millionen im Jahr. Dies ist die größte Migrationsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Doch für die meisten der armen Zuwanderer heißt die urbane Zukunft Slum, Shanty Town, Favela, Musseques oder Barrio.

Je größer der Marsch auf die Städte wird, desto heftiger debattieren Sozialwissenschaftler/innen und Ökonomen darüber, ob die Slumbewohner/innen des 21. Jahrhunderts ähnliche Hoffnungen haben dürfen wie die Landflüchtlinge des 19. Jahrhunderts. Viele Experten sehen optimistisch in die Zukunft: Die Megastädte seien Labore des gesellschaftlichen Wandels, in denen, aus der Enge und der Not geboren, neue wirtschaftliche und soziale Trends entstehen würden. "Pulsierend" nennt beispielsweise der Architekt Rem Koolhaas die Slums der nigerianischen Hauptstadt Lagos. Und als "dynamisch" bezeichnen Experten von UN-Habitat den freien Markt der informellen Schattenökonomien. Aus dieser Sicht gelten die Slums als Startrampe für den sozialen Aufstieg.

Der Slum als Vorhölle

Mike Davis an der grünen Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko.
Mike Davis an der grünen Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko.
Für Mike Davis, marxistischer Stadttheoretiker und Aktivist, stellen die Elendsviertel hingegen die Hölle auf Erden dar. Ihm zufolge wird ein Großteil der urbanen Welt des 21. Jahrhunderts inmitten von Umweltverschmutzung, Exkrementen und Abfall im Elend versinken. Die Städte der Zukunft treten nicht in die Fußstapfen von Manchester oder Berlin, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge des Gründerbooms zu prosperierenden Industriestädten entwickelten. Stadtluft macht nicht mehr frei, geschweige denn reich. Ganz im Gegenteil. Heute findet das Wachstum vieler Städte weitgehend ohne Industrialisierung, oftmals sogar ohne jegliche Entwicklung statt. Von einem "Slum der Hoffnung", wie ihn sich die Experten noch vor 20 oder 30 Jahren ausgemalt hatten, kann keine Rede sein. Wo sich zu viele Menschen in dieselbe Überlebensnische zwängen müssen, wird aus einer durch Selbstorganisation und Improvisation geprägten Produktivität ein Kampf ums bloße Überleben.

Davis räumt auch mit sozialromantischen Vorstellungen über Landbesetzungen auf. Diese laufen heute weitgehend als kommerzielle Unternehmungen ab. In Lateinamerika nennt man das "piratische Urbanisierung". Die Zuwanderer zahlen viel Geld für winzige Grundstücke oder wohnen, wenn sie sich den Kauf nicht leisten können, bei andern Armen zur Miete. In manchen Slums besteht deshalb die Mehrheit der Bewohner nicht aus Besetzern, sondern aus Mietern. Eine Marginalisierung innerhalb der Marginalität etabliert sich als neue Form der Ausbeutung.

Planet of Slums, Beitrag aus kulturzeit v. 26. April 2007

Für partizipatorische Projekte von unten besteht für Mike Davis kaum Hoffnung. Kritiker werfen ihm deshalb vor, sein neues Buch "Planet of Slums" lese sich wie ein Polizeibericht. Zudem übersehe er, dass der von ihm beklagte Rückzug des Staates aus den Elendssiedlungen auch der Autonomie einen Raum eröffne. Was fehle sei die Sichtweise der kämpfenden Marginalisierten.

Beispiel Luanda

Wir wollen bei der Veranstaltung nicht nur die Kernaussagen von Mike Davis diskutieren, sondern auch die Situation der Slums anhand des Beispiels von Angolas Hauptstadt Luanda veranschaulichen. Angola, eines der rohstoffreichsten Länder des afrikanischen Kontinents, befand sich fast vier Jahrzehnte im Krieg. Nach einem langjährigen Kampf gegen die portugiesische Kolonialherrschaft, der 1974 mit der Unabhängigkeit endete, wurde eine Reihe von Konflikten als Bürgerkrieg, Stellvertreter- und schließlich Verteilungskrieg bis 2002 weitergeführt. Heute ringen vor allem die USA und China um den Zugriff auf die riesigen Ölvorräte Angolas.

Luanda by night.
Die Hafenpromenade Luandas wurde bereits zu Kriegszeiten aufwendig neu gestaltet. Im Hintergrund: Die Banco Comercial de Angola

Das Ende der Gewalt ging nicht mit einer Stabilisierung der ökonomischen und sozialen Situation einher, ganz im Gegenteil: Angola gehört inzwischen zu den ärmsten Ländern überhaupt. Heute leben etwa drei Millionen Menschen in Luanda, davon der größte Teil in riesigen Slumgebieten, den so genannten Musseques. Viele dieser informellen Siedlungen werden nun abgerissen und Zehntausende von Menschen vertrieben, um gezielt eine Pufferzone zwischen der marginalisierten Bevölkerung und der kleine Gruppe der Superreichen zu schaffen, die sich aus ehemaligen Kadern der Befreiungsbewegung rekrutiert.

Angolan Kids.
In den Musseques rund um Luanda lebt die Mehrheit ohne Strom oder sauberes Wasser.
Wie kann sich in einem Land, in dem die Rechtlosigkeit der Bevölkerung den Normalzustand darstellt, noch Widerspruch zum Bestehenden artikulieren? Welche faktischen Handlungsoptionen existieren noch für die Betroffenen?

Fragen, die wir mit Sebastian Kasack und Anne Jung diskutieren wollen. Gemeinsam betrachten sie die Megacity von oben, von außen und von innen.

  • Sebastian Kasack, Berater in der Entwicklungszusammen-
    arbeit, hat für die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international einige Jahre in Angola gearbeitet und ist Autor von "Wollt Ihr uns etwa aus dem Viertel vertreiben?! Stadtentwicklung in den Armutsvierteln von Luanda/Angola" (Berlin 1992).

  • Anne Jung arbeitet bei medico international und ist Teil von Nitribitt - Frankfurter Ökonomien.


  • Donnerstag, 9. August 2007, 19.30 Uhr
    Atelier Frankfurt, Hohenstaufenstrasse 13-27

    >> script > Klaus Ronneberger, Planet of Slums. Elendsurbanisier- ung im "goldenen" Zeitalter der Globalisierung (pdf)
    >> script > Anne Jung, Ausschluss als Konzept. Zur Transformation des Konflikts in Angola (pdf)

    > link >> Bio: Sebastian Kasack
    > link >> Medico: Projekte & Partner in Angola

    > link >> Mike Davis' "Planet der Slums" bei Assoziation A
    > link >> Review by Richard Pithouse (Sunday Independent, 2006)
    > link >> Themenheft: Naked Cities – Struggle in the Global Slums (Mute Vol 2 #3, 08/2006)
    > link >> Worldmapper: Slum Growth

    > link >> UN-HABITAT: The Challenge of Slums (10/2003)
    > link >> HRW-Bericht: "Sie zerstören die Häuser: Zwangs-
    räumungen und unsichere Grundbesitzverhältnisse für die städtischen Armen Luandas." (05/2007)


    Nit-Flyer: Planet of Slums am Bsp. Luandas