NATO-Osterweiterung:
Der Mythos von der Wiedervereinigung Europas


von Alain Kessi
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Die NATO-Osterweiterung ist Teil eines Versuchs, nach 1989 die Existenz der NATO neu zu legitimieren. Starke Bilder wie die "Überwindung von Yalta" werden herangezogen. Die Verlockung des reichen Westens macht diesen Mythos auch im Osten attraktiv. Auch wenn den Leuten klar ist, dass es um Machtinteressen geht. Diese Machtinteressen sind innerhalb der NATO keineswegs homogen. Antagonismen und Konkurrenz zwischen verschiedenen Mächten innerhalb der NATO ergeben eine Dynamik, die die einzelnen Akteure unter Zugzwang setzt.


Legitimationsschwierigkeiten der NATO

Die NATO müsste eigentlich in einer tiefen Sinnkrise stecken. Das ganze Gebäude von Gründungsmythen, das die Organisation des Nordatlantik-Paktes während des sogenannten Kalten Krieges zu ihrer Legitimation herbeigezaubert hatte, ist mit dem Kollaps der damaligen "Sowjet"union an den inneren Widersprüchen und Legitimationsschwierigkeiten ihres supermonopolistischen, zentralisierten Machtsystems wie ein Kartenschloss zusammengefallen.

Die NATO war 1949 gegründet worden, um in Europa "die Sowjets draussen zu halten, die Deutschen unten und die Amerikaner drin", wie es Lord Ismay, der erste Generalsekretär der NATO, ausdrückte. Für Luis Gutiérrez Esparza, Präsident des Lateinamerikanischen Zentrums für internationale Studien in Mexiko, ist klar: "Heutzutage hat die NATO keinen Grund zu existieren, es sei denn, sie verwandle sich in eine politische Organisation." Genau diesen Wandel hatte aber die NATO-Führung aus bündnisstrategischen Überlegungen schon Mitte der fünfziger Jahre eingeleitet. Sie hatten die NATO mit politischen Aufgaben und einer Bürokratie angereichert, um zu verhindern, dass sie einstmals "mit der unmittelbaren Krise verschwindet, die sie hervorgebracht hat". Bürokratien sind bekannt als Organisationen, die nicht verschwinden, wenn ihr Auftrag hinfällig wird, sondern sich eine neue Existenzberechtigung erfinden.

Anfang der 90er Jahre stürzte die NATO denn auch tatsächlich in eine richtiggehende Identitätskrise. Obwohl verschiedene Seiten ihre je eigenen Gründe hatten, warum die NATO fortbestehen müsse, musste erst noch eine nach aussen überzeugende Erklärung für diese Notwendigkeit gefunden werden. Vor allem die US-Regierung hat lange gebraucht, bis sie mehr als unbestimmte "neue Gefahren" dazu anzuführen imstande war. Nach langer Suche nach einer neuen Legitimation scheint die NATO in etwa wieder zu ihrer ursprünglichen europapolitischen Rolle gefunden zu haben: Nun soll die NATO die Russen draussen halten, die Deutschen unter Kontrolle und die Amerikaner drin. Die Kontrollfunktion der NATO wird von der deutschen Regierung selbstverständlich nicht hingenommen, so dass die Bemühungen um eine Legitimation des Fortbestehens der NATO überlagert ist von Machtkämpfen, insbesondere zwischen dem deutschen und US-amerikanischen Machtapparat.

Wie der Ex-DDR-Spion im NATO-Hauptquartier, Rainer Rupp, in der Jungen Welt vom 28.10.98 erklärt, hatte die deutsche Staatsführung in der Nachkriegsordnung trotz wirtschaftlichen Schwergewichts politisch nicht viel zu melden. Das lässt sich auf die Wichtigkeit der nuklearen Rüstung im Kalten Krieg zurückführen, auf die aussenpolitischen Schwierigkeiten durch die Teilung, auf die Abhängigkeit von alliierten Garantien, darauf, dass die Welt dem Nachfolgestaat des Naziregimes machtpolitisch auf die Finger schaute. Nach dem Ende des Kalten Krieges änderte sich die relative Wichtigkeit der verschiedenen Machtattribute, und das vergrösserte Deutschland als weitaus wichtigste wirtschaftliche Macht in Europa wurde von den Eliten anderer europäischer Länder als Bedrohung angesehen. So setzten sich, etwa in Holland, selbst ehemals linke NATO-GegnerInnen für den Erhalt der NATO ein, um für "die Einbindung und die geregelte Machtentfaltung des grösseren Deutschlands innerhalb der NATO" (Rupp) zu sorgen.

Für den deutschen Staatsapparat erklärt sich die Attraktivität der NATO aus dem Angebot der US-Regierung, ausgedrückt in einer Rede George Bushs in Berlin, innerhalb der NATO eine strategische Partnerschaft zwischen USA und BRD aufzubauen. Die deutsche Regierung liebäugelt damit, ihr Rolle als militärischer Aussenseiter zu durchbrechen und das "besondere Verhältnis" ("special relation") zwischen den USA und England in ein US-deutsches zu verwandeln, was die englische Regierung wiederum zu ungeahnten Höhen geflissentlicher US-Treue anspornt. Tatsächlich hat sich der deutsche Staat im Rahmen der NATO Schritt für Schritt seiner militärischen Fesseln entledigt und hat sich nun mit den NATO-Angriffen gegen Jugoslawien daraus endgültig freigebombt. Die "Partnerschaft" zwischen dem deutschen und US-amerikanischen Staatsapparat zeigt sich allerdings in einer Dialektik von gemeinsamen Interessen und heftigen Machtkämpfen um Kontrollsphären. Der taktische Umgang der deutschen Regierung mit der NATO scheint bereits 1992 in Volker Rühes Verteidigungspolitischen Richtlinien durch: die WEU garantiere den Europäern in Krisensituationen Handlungsfähigkeit, in denen "die Nato nicht in der Lage oder nicht willens ist, einzugreifen".

Stärker als die deutsche hat die französische Regierung versucht, konsequent eine Politik europäischer militärischer Autonomie gegenüber den USA zu verfolgen im Rahmen der Westeuropäischen (Verteidigungs-)Union WEU unter französisch-deutscher Führung. Die US-Regierung, die darin nicht einmal einen Beobachterstatus hat, konterte diese europäischen Unabhängigkeitsbestrebungen mit einer Verstärkung der Rolle der NATO in Bosnien – mit der tatkräftigen Unterstützung des UNO-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali sowie der niederländischen Regierung, eine treibende Kraft des Wandels der NATO. Ab 1993 begann sich unter dem Einfluss der Ereignisse in Bosnien eine französische Annäherungspolitik an die NATO abzuzeichnen, bekräftigt in einer Deklaration im Dezember 1995. Nachdem beim Regierungswechsel im Sommer 1997 eine Abkehr von der NATO-Annäherungspolitik Frankreichs festzustellen war, besinnten sich französische MilitärstrategInnen in der Zeit vor den NATO-Angriffen auf Jugoslawien darauf, dass sie bei der bevorstehenden Machtschau nicht aussen vor bleiben wollten. Nun, da die US-Regierung trotz glänzender deutscher Vorarbeit in der Schlussphase der Eskalierung des Konflikts mit Jugoslawien federführend ist und verschiedene europäische Mächte inklusive Deutschland eine Gelegenheit sehen, den Hegemonialanspruch der NATO zu diskreditieren und somit den US-Einfluss in Europa einzuschränken, werden französische WEU-Pläne wieder aus den Schubladen geholt. Die NATO hat für Deutschland ihren Hauptdienst getan – die militärische Isolation ist durchbrochen. Nun ist sie zwar noch als eine Organisation unter mehreren wünschenswert – unter anderem, um den Zugriff auf teure US-amerikanische Infrastruktur zu gewährleisten –, nicht aber als hegemoniales militärisches Bündnis.

Die US-Regierung ihrerseits hat alles Interesse daran, die NATO, in der sie bisher unangefochten den Tarif durchgibt, europapolitisch als Einflussmittel zu bewahren und weltweit auszubauen. Das zwingt sie in Jugoslawien dazu, die seit langem von der deutschen Aussenpolitik betriebene Eskalationsstragie, die mit der Zersplitterung des Landes entlang "ethnischer" Trennlinien unter Genscher begonnen hatte, als NATO-Initiative als die ihre anzunehmen. Umgekehrt ist die US-Regierung bestrebt, der deutschen Regierung für ihre aussenpolitischen Unternehmungen die NATO als Gefäss aufzuzwingen.


Steine im Weg: Russland und das Völkerrecht

Dass von vielen Seiten ein Interesse an einem Weiterbestehen der NATO besteht, gibt ihr noch keinen nach aussen legitimierenden Auftrag. Dieser wurde erst in einem schwierigen Suchprozess gefunden, aus dem sich zwei Aspekte herauskristallisiert haben: die Rolle als Weltpolizistin und jene als in Osteuropa stabilisierend wirkendes politisch-militärisches Bündnis. Ersterer stand das Völkerrecht im Weg, letzterer russische Bedenken und das, was in diplomatischer Sprache psychologisierend russische "Erniedrigungsgefühle" genannt wird. Die Geschichte der Überwindung dieser beiden Faktoren führt die NATO und allen voran die US-Regierung in einen Sumpf von Gefahren und Widersprüchen, getrieben von der Logik ihres Machtsystems und von den teils gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Machtapparate, die in der NATO vertreten sind, allen voran der deutschen und der US-Regierung.

Irak, Bosnien, Kosov@ ist der Dreischritt, mit dem die NATO unter US-Führung das Völkerrecht "strategischen Interessen" untergeordnet hat. Ziel der Übung war die Bändigung transnationaler Institutionen wie der UNO und der OSZE, die nicht genügend strikt nach der US-amerikanischen Geige tanzen. Während beim Zerbomben des Iraks die NATO nach aussen hin nur den Truppen, die unter UNO-Befehl operierten, teure Technologie zur Verfügung stellte, wurde bei der Durchsetzung des Prinzips der "ethnischen" Trennung in Bosnien ein neues Schema angewandt. Die UNO und die OSZE wurden mit Aufträgen ins Terrain geschickt, die sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ausführen konnten, und so lange im Regen stehengelassen, bis die NATO sich als Retterin in der Not anbieten konnte. Die UNO erteilte sodann ein "Mandat". Nähme man die für die NATO-Intervention angeführten Gründe ernst – die Beendigung eines Bürgerkriegs und die Schaffung der Voraussetzungen für einen Neuanfang –, müsste man wie Rainer Rupp zum Schluss kommen, dass der NATO-Einsatz ein völliger Reinfall war: die willkürliche Dreiteilung Bosniens wurde dadurch zementiert; die SFOR-Truppen können aus Angst vor einem Wiederaufflammen des Konflikts nicht abgezogen werden und bleiben auf unbestimmte Zeit in Bosnien stationiert. Es bleibt jedoch die Möglichkeit, das Resultat der Operation, nämlich die Einschränkung des regionalen Einflusses Jugoslawiens sowie das Aufstellen eines autoritären Protektorats unter dem Kommando des NATO-Generals Carlos Westendorp, als die eigentlichen Ziele der NATO-Strategie zu sehen – auch wenn der Preis einer ständigen Stationierung von Truppen hoch ist und eine Einbindung der Region in US- oder deutsche Einflusssphären über Identifikationsangebote und ökonomische Abhängigkeit bestimmt bevorzugt worden wäre, wenn nicht existierende Sozial- und Wirtschaftsstrukturen im Wege gestanden hätten. Solche strategischen Zielstellungen sind aber, ausser im US-Kongress, wo über US-imperialistische Bestrebungen bisweilen zynisch offen gesprochen werden kann, gegen aussen hin für Legitimationszwecke schlecht verwertbar. Daraus ergibt sich ein Zugzwang für die NATO-Führung, die einen Erfolg braucht, um das Fortbestehen ihrer Machtstruktur zu legitimieren.

Nur knapp verhüllt spricht dies Morton I. Abramowitz, ehemaliger US-Botschafter und stellvertretender Staatssekretär, in seiner Kennan-Vorlesung 1996 im US-amerikanischen State Department an: "Die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten haben mit dem Dayton-Abkommen ein bedeutendes daraus abgeleitetes Interesse hervorgebracht: Nicht nur wären das Scheitern des Abkommens und erneute Kampfhandlungen ein moralisches Desaster und auf Jahre hinaus ein Fluch für das Leben von Serben, Kroaten und Muslime – es würde innerhalb der Allianz und in all unseren Öffentlichkeiten politisch und psychologisch eine Verwüstung anrichten." Diese Sorge um das Fortbestehen der NATO findet sich in der Politik der NATO um Kosov@ wieder, wie die Aussage eines hohen NATO-Beamter Anfang Oktober 1998 in der International Herald Tribune illustriert: "Die Glaubwürdigkeit der NATO steht auf dem Spiel. Wir dürfen nicht zulassen, dass [Milosevic] die Allianz als unfähig hinstellt." (zitiert in Rupp) Dass die NATO zu diesem Zweck eine Politik der Eskalation verfolgt und in mühsamer Kleinarbeit die Sachzwänge für einen Einsatz in Kosov@ hergestellt hat, zeigt, wie verbissen sie eine Bestätigung ihrer "Glaubwürdigkeit" sucht. Denn wenn sich Bosnien als Sumpf herausgestellt hat, ist Kosov@ ein Minenfeld, von dem die NATO nach eigenen, militärischen Grundsätzen eigentlich hätte fernbleiben sollen. Hier hat sie nicht, wie in Bosnien, das Einverständnis aller involvierten Parteien. Ausserdem ist in dieser Frage das andere Problem der NATO nicht überwunden: die russische Diplomatie kann sich auch nach Wochen täglicher Bombardierungen nicht mit dem NATO-Angriff gegen Jugoslawien anfreunden. Die NATO-Führung scheint bereit, die unermessliche Gefahr eines ausgeweiteten Konflikts einzugehen, in den auch Russland eingreifen könnte.


Provokation gegen Russland

Die NATO-Osterweiterung selber ist in politischen Kreisen in den USA durchaus umstritten, vor allem aus Sorge um mögliche Reaktionen der russischen Regierung. Eine berechtigte Sorge, basiert doch die US-Politik einerseits auf der nostalgischen Beschwörung einer "russischen Gefahr", andererseits auf dem Zurückbinden russischer (Öl-)Interessen am kaspischen Meer in der Tradition des Imperialstrategen Zbigniew Brzezinski. In Russland wird die Osterweiterung der NATO schmerzvoll wahrgenommen als ein Aufstellen neuer Grenzen: der Mythos von der Wiedervereinigung Europas wird durchschaut. Michail Gorbatschow etwa erklärte aus Anlass der Beitrittszeremonie Polens, Tschechiens und Ungarns am 12.3.99, er fühle sich "verraten", und der Westen nütze die Schwäche Russlands aus und erniedrige RussInnen so, wie die Alliierten das besiegte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg behandelt hätten. Und David S. Broder meint bekümmert im Washington Post vom 22.4.98, sogar ein Moderater wie Grigory Yavlinsky hätte erklärt, es sei absurd, an die friedfertigen Absichten der NATO zu glauben.

Diese Ängste zu beschwichtigen sucht die US-amerikanische Diplomatie seit längerem, parallel zu ihrer Politik der vollendeten Tatsachen. Staatssekretär Warren Christopher wird in seiner Stuttgarter Rede vom 6.9.96 pathetisch: "Heute möchte ich dem russischen Volk dies sagen: Wir begrüssen euch als unsere vollwertigen Partner im Aufbau eines neuen Europa, das frei ist von Tyrannei, Teilung und Krieg." Unter anderem durch den "Ständigen Gemeinsamen NATO-Russland-Rat", in dem die russische Regierung zumindest zuhören darf, was sich in der europäischen Sicherheitspolitik tut. Und etwas widersprüchlicher in der "Allianz für den Frieden", in der einerseits Russland eingebunden ist, die aber auch als Testlabor für die NATO-Osterweiterung dient, von der Russland ausgeschlossen bleibt.

US-amerikanische GegnerInnen der Erweiterung warnen wie Gorbatschow vor einem russischen Versaille-Syndrom. In der "ex-kommunistischen" bulgarischen Zeitung Duma vom 13.3.99 verurteilt der russische Parlamentsabgeordnete Vassiliy Iver die Augenwischerei der NATO: "Warum soll der Pakt denn nicht zuerst Russland aufnehmen? Danach könnte er sich mit der Aufnahme der anderen Länder Osteuropas und der Ex-UdSSR beschäftigen. Wir können die NATO-Standards leicht erfüllen." Diese Auffassung tritt auch in der US-amerikanischen Diskussion auf. Farid Zakaria etwa schreibt in Newsweek am 4.5.98, in einer konsequenten Politik der Stabilisierung der "neuen Demokratien" in Osteuropa könne Russland nicht aussen vor bleiben.

Ein Beitritt Russlands würde jedoch nicht nur im US-Senat durchfallen, in dem Nostalgiker des Kalten Krieges immer noch eine Mehrheit haben. Für UkrainerInnen kommt diese Vorstellung einem Alptraum gleich. Zu nahe liegt die hart erkämpfte Unabhängigkeit zurück. Zu gross und imposant erscheint der östliche Nachbar, trotz seiner derzeitigen Schwäche. Umgekehrt ist die Ukraine nach Israel und Ägypten das von den USA mit Unterstützungsprogrammen meistumworbene Land. Auch dies ein Zeichen der erneuerten US-Politik der Zurückbindung Russlands. Die ukrainische Diplomatie weiss diesen Umstand im Machtkampf Präsident Leonid Kutschmas gegenüber Boris Jelzin einzusetzen. Gernot Erler schreibt dazu: "Immer, wenn sich der Streit zwischen den Präsidenten Jelzin und Kutschma in letzter Zeit verschärfte, brachten ukrainische Politiker einen möglichen Antrag auf eine NATO-Mitgliedschaft ins Spiel." Dieser Druck habe letztlich auch Russland zum Unterschreiben des Flottenabkommens und des russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrags gezwungen.

Anatol Lieven, ehemaliger Russland-Korrespondent für The Times of London und eine der prominentesten kritischen Stimmen gegen die NATO-Osterweiterung, weist im Atlantic Monthly vom Januar 1996 auf die historischen Versprechen "des Westens" an Russland. Nachdem die russische Regierung im Verlauf des Anschlusses der DDR an die BRD noch beschwichtigt worden war, die NATO würde in den neuen Bundesländern keine Truppen stationieren, bereite sich die NATO nun darauf vor, Ostdeutschland zu überspringen und 500 km näher bei Russland, in Polen Fuss zu fassen. Eine noch grössere Provokation wäre der Einbezug der baltischen Republiken oder der Ukraine. Lieven zitiert aus einem Reuters-Interview, in dem der russische General Alexander Lebed meinte, die NATO führe sich auf "wie ein grosser betrunkener Hooligan in einem Kindergarten, der sagt, er würde jeden boxen, den er boxen will"; im selben Interview warnte der General vor einem dritten Weltkrieg. Laut Lieven stammt der falsche Eindruck westlicher DiplomatInnen, das russische Establishment hätte nichts gegen eine NATO-Osterweiterung, aus der Zeit der Regierung Andrei Kozyrevs und seiner "DemokratInnen" anfangs der 90er Jahre. Kozyrevs Isolation innerhalb des Moskauer Establishments sei offenbar im allgemeinen Wunschdenken niemandem aufgefallen.

Die BefürworterInnen der NATO-Erweiterung spielen die Provokation gegen Russland herunter. Für Clinton vergrössert die NATO-Erweiterung die allgemeine Stabilität in Europa und kommt so auch der russischen Sicherheit zugute, wie er in seinem Bericht an den US-Kongress vom 24.2.97 erklärt. Arroganter und ehrlicher drückt sich Senator Jesse Helms aus: "Wenn überhaupt, wird [die Erweiterung] es uns leichter machen, freundschaftliche Beziehungen zu Russland zu pflegen, denn eine erweiterte NATO wird Russland den Weg zu destruktiveren Verhaltensmustern verbauen." Die Frage des Image, der Legitimation als Führungsmacht, übt stets grossen Einfluss auf politische Entscheidungen in den USA. So streicht der erwähnte Bericht Clintons an den Kongress die Gefahren eines Verzichts auf die NATO-Osterweiterung heraus: "Die NATO würde in der Vergangenheit steckenbleiben, von Bedeutungslosigkeit bedroht, während die USA als unstet und unzuverlässig in ihrer Führungsfunktion wahrgenommen würde, und als sich aus ihrer Verantwortung in Europa und der Welt stehlend."

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