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Dieser Teil beschäftigt sich mit der Entstehung und Wandlung des Armutsbegriffs, mit der modernen Definition und Messung von Armut und mit der Rolle der Armut in unterschiedlichen Gesellschaftsformen. Außerdem werden aktuelle Ansätze der und Debatten innerhalb der Armutsforschung vorgestellt.
Zunächst soll die Entstehung und Verwendung des Armutsbegriffs im wissenschaftlichen Kontext grob umrissen werden. Danach folgt eine eingehende Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des Armutsbegriffs und mit seiner Verwendung in verschiedenen Epochen von Urgesellschaften über das Mittelalter bis hin zur modernen Industriegesellschaft.
1. Zum Begriff der Armut
Ein erster Zugang zur Problematik der Armut besteht in der Beschäftigung mit dem Begriff der Armut, um Verständnis und Kritik der Verwendungsweisen in wissenschaftlichen Disziplinen zu ermöglichen. Die Mehrdimensionalität von Armut läßt sich bereits an der Bedeutungsvielfalt des Begriffs ablesen. Wie er entstanden ist, und wie er in unterschiedlicher Ausprägung definiert wird, soll hier zunächst umrissen werden.
a) Armut
Es gibt rein politische Eingrenzungen des Armutsbegriffs, solche über relative Einkommensstandards, Haushaltsbudget- oder Warenkorbstandards, oder über die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens.
Eine erste Näherung liefert die Bestimmung der Armut als Mangelbegriff. Der Mangelbegriff kann in absolute, relative, subjektive und objektive Dimensionen unterschieden werden. Es handelt sich zunächst einmal um die wirtschaftliche Lage einer Person, einer Gruppe, oder gar einer ganzen Bevölkerung, in der sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht allein bestreiten kann.
Der Mindestbedarf deckt entweder ein absolutes Subsistenzminimum ab, wenn die Mangelsituation so ausgeprägt ist, daß mittelbar oder unmittelbar (etwa durch Verhungern oder Erkrankung) die physische Existenz von Menschen bedroht ist. Oder der Mangelbegriff beinhaltet schon darüber hinausgehende Komponenten, die als Mindeststandards in komplexeren, reicheren Gesellschaften festgelegt werden. Der Mindestbedarf wird damit zu einem sozio-kulturellen Existenzminimum. Ein solcher Ansatz impliziert schon ein relatives Moment, nicht in erster Linie, weil der Mensch nicht biologisch reduziert bleibt, sondern vielmehr, weil die sozio-kulturellen Existenzminima je nach Gesellschaft, an die sie angegliedert sind, variieren. Wenn ein Bedarf absolut definiert ist, beinhaltet er einen festgelegten Standard, der in komplexeren Gesellschaftsformen lediglich an Änderungen des Preisniveaus angepaßt wird. Neue Werte, neue Bedürfnisse, die sich eine Gesellschaft erschließt, bleiben damit weitgehend unberücksichtigt.
Subjektiv tritt Armut durch mangelnde Bedürfnisbefriedigung auf. Eine Person würde sich selbst als arm bezeichnen, wenn sie feststellt, daß ihre Ausstattung mit Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung nach ihren eigenen Maßstäben oder nach dem, was sie als anerkannte Maßstäbe wahrnimmt, massiven Mängeln unterliegt. Wenn die Bedürfnisse und die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung an objektiven Parametern orientiert werden (etwa an Konsummöglichkeiten und -verhalten, oder an kalorische Bedarfsannahmen), wird von objektiver Armut gesprochen, weil hier unmittelbar vergleichbare Kriterien an eine Menge von Individuen, Gruppen oder Haushalte herangetragen werden.
Die Definition und Messung von Armut beschränkt sich im Wesentlichen auf die Verknüpfung von objektiven Kriterien zur Bestandsaufnahme von relativer Armut. Es wird leicht deutlich, daß das (kollektive) Bewußtsein über das Ausmaß, wie auch das Verständnis der Armut fundamental geprägt ist von der Ausgestaltung der Armutsstatistik und -forschung überhaupt. Von Seiten strenger Objektivisten wird versucht, die Armutsschwelle festzulegen, ohne auf Werturteile rekurrieren zu müssen. Ob es aber wertfreie, streng objektive Armutsgrenzen geben kann und welche Aussagekraft diese hätten, bleibt zu diskutieren.
Armut erhält eine Relevanz i.d.R. nur durch die Vermittlung objektivierender Verfahren. Es läßt sich vielleicht sogar sagen: Armut ist in neuerer Zeit immer nur die, welche durch die o.g. Ansätze entdeckt und beschrieben wird. Das Phänomen Armut tritt, so ein erster Eindruck, zumindest in seiner aktuellen Ausprägung immer in einer Verknüpfung von Definition und Messung in Erscheinung.
b) Armutsmessung
Ein verbreitetes objektives Kriterium relativer Armut ist die Bestimmung von Personen oder Haushalten, die unter einer festgelegten Einkommensgrenze leben. Alle Haushalte oder Personen, die über ein (monatliches) Einkommen verfügen, welches unter der festgelegten Einkommensgrenze liegt, werden als einkommensarm bezeichnet. Die Einkommensgrenze ist immer orientiert am Durchschnittseinkommen der übergeordneten Untersuchungseinheit (Gesamtheit aller Personen bzw. Haushalte - untersuchte Gesellschaft) und ist in mehrfacher Hinsicht relativ:
Eine solche Bestimmung ist also immer eine räumlich und zeitlich gebundene. Eine weitere Beschränkung ist die Tatsache, daß sich der Übergang von diesem einen objektiven Kriterium (des Einkommens) zu seinen (subjektiven) Auswirkungen als schwierig gestaltet. Entscheidend ist die Einkommensarmut deshalb, weil sie direkte Auswirkungen auf die Benachteiligung in den Bereichen Wohnen, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Sozialprestige und politische Partizipation hat. Eine weitreichende Definition des sozio-kulturellen Existenzminimums versucht genau diese Faktoren im Gegensatz zu der reinen Einkommensarmut zu umfassen, muß aber auch daran arbeiten, erschöpfende objektive Bedarfsstandards festzulegen.
Die Bestimmung der Armut und damit die Bestandsaufnahme des Armutsproblems einzig gemessen an einer Statistik der Einkommensarmut würde ein verzerrtes, mindestens aber ungenaues Bild produzieren. Andererseits fehlt eine allgemein anerkannte Definition und Methode, die genügend objektive Kriterien umfaßt, um den Armutsbegriff befriedigend zu füllen und eine international verwendbare Statistik zu ermöglichen. Dies ist nicht nur ein Problem der Einigung auf einen methodischen Ansatz (das scheint im Rahmen des Möglichen), vielmehr umfaßt das Armutsphänomen mehr, als zur Zeit über rationalskalierbare Daten erfaßt werden kann. Selbst neuere Konzepte der relativen (multiplen) Deprivation oder der Lebenslagenforschung bieten kein eindeutiges Bild und werden eher als Leitlinien benutzt, als tatsächlich in Analysen umgesetzt zu werden, die über die von Randgruppen hinausgehen.
Ein weiterer objektiver Ansatz nimmt die faktische Inanspruchnahme von wohlfahrtsstaatlichen Fürsorgeprogrammen auf, um einen Zugang zum Ausmaß der Armut zu bekommen. Arm sind dann all diejenigen, die die Leistungen in Anspruch nehmen, die der Staat zur Vermeidung von Einkommensarmut installiert hat. In der Bundesrepublik Deutschland ist dieser Ansatz als Untersuchung anhand der Sozialhilfestatistik bekannt. Sich allein nach der faktischen Inanspruchnahme von Leistungen zu richten birgt allerdings eine Reihe von weiteren Problemen:
Armut als soziales Phänomen zu begreifen und zu erfassen ist also ein komplexes Verfahren, welches mit Einkommens- und Konsumstatistiken nur unzureichend zu erfassen ist. Wird aber die Armut nur in einem so beschränkten Maße verstanden und wahrgenommen, so wird auch ein wirksamer Weg zu ihrer Beseitigung versperrt bleiben. Soziale Ungleichheit in Form von Minderwertigkeit, Abhängigkeit und Ausbeutung der von Armut betroffenen fällt weitestgehend durch den oben skizzierten Filter der Mangellagenbestimmung.
Gebräuchliche Statistiken können relative Einkommensarmut (gebraucht v.a. in Industrieländern) und absolute Armut (also i.d.R. die Bestimmung eines Subsistenzminimums) mittlerweile recht gut berechnen und beschreiben. Die gesamten Facetten des Armutsbegriffs (die subjektiven oder nicht-materiellen) beschreiben sie aber nur unzureichend.
c) Alte Armut und neue Armut
Obwohl Formen von Armut die gesamte Menschheitsgeschichte begleiten, ist eine erste signifikante Form der Armut im Verlaufe des Übergangs vom Spätmittelalter zum Industriezeitalter beobachtbar, da während dieses gewaltigen Umwälzungsprozesses zum ersten Mal die Armut als strukturelles Massenphänomen auftauchte. D.h. es ist die massenhafte Abkopplung breiter Bevölkerungsschichten vom gesamtgesellschaftlichen Zuwachs an Finanz- und Produktionskapital besonders deutlich. Vor dieser Entwicklung waren Gemeinschaften eher insgesamt von Verarmung betroffen, oder die Bereicherung einerseits und die Verarmung andererseits waren starke Einzelphänomene.
Es gibt aber noch ein weiteres Verständnis von Armut, welches Armut als eine erhaltenswerten oder erstrebenswerten Zustand begreift. Diese Form der Armut kann als eine moralische Armut beschrieben werden. Sie spielte im Mittelalter innerhalb der christlichen Tugendlehre eine Rolle, ging aber im Laufe des eben genannten Umwälzungsprozesses weitestgehend verloren. Weiter oben wurde Armut vor allem als Zustand in einer Mangellage beschrieben. Als ein Zustand also, den es zu vermeiden gilt, oder der so schnell wie möglich verlassen werden sollte.
Mit der Aufwertung des Faktors Geld gegenüber dem gegenständlichen Besitz, mit der massenhaften Enteignung der Landbevölkerung und mit der Konzentration des Kapitals als Privatbesitz in den Händen weniger trat im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der Pauperismus in Gestalt der massenhaften Verelendung einer ganzen Klasse (die durch den Umwälzungsprozeß entstandene Klasse der Proletarier) in den Vordergrund und wurde zu einem strukturellen Defekt des gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Die religiöse Armenpflege wurde zunächst durch private oder staatliche nicht ersetzt oder gestützt, so daß die Pauper wirklich nicht nur als ein Randphänomen und als ein einkommensarmer Teil der Gesellschaft anzusehen, sondern ihrer Situation weitestgehend schutzlos ausgeliefert waren und zudem weniger Bürgerrechte als andere genießen konnten. Eine institutionelle Ausgestaltung der Pflicht zur Beseitigung der Armutsproblematik wurde bis in das zwanzigste Jahrhundert nicht in Staatsformen implementiert. Entscheidend für die Dramatisierung des Pauperismus (oder vielmehr dann schon in der neuen Begrifflichkeit der Verelendung der Proletarier) war auch, daß durch Armengesetzgebungen im neunzehnten Jahrhundert überhaupt erst kategorisch zwischen Arbeitern und Armen unterschieden wurde. Wer unter dem Angebot des Arbeitsmarktes arbeitsunwillig oder -unfähig war, bekam keine staatliche Unterstützung in Gestalt von Lohnaufbesserungen. Durch die vorangegangenen Enteignungsprozesse gab es zur Lohnarbeit allerdings praktisch keine Alternative mehr. Dieser Trennung ist auch eine weitreichende und im Kern noch bestehende Form einer umfangreichen Arbeiterpolitik (wie sie v.a. von den Gewerkschaften betrieben wird) einerseits, und einer defizitären Armenpolitik andererseits zu verdanken.
Durch erste Sozialstaatsmaßnahmen und die politische Einflußnahme sozialistischer Bewegungen sowie der Bildung von Gewerkschaften nahm die Armutsproblematik im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein zunächst ab oder zumindest andere Züge an. Der Begriff des Pauperismus verschwand somit zunehmend. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Armut wieder stärker thematisiert. Da die Armut seit dem nicht mehr erschöpfend (so zumindest die beherrschende Überzeugung) als Klassenproblem gefaßt werden kann, wird daher von neuer Armut gesprochen, auf die an anderer Stelle noch eingegangen wird.
2. Formen der Armut im historischen Kontext: ein gesellschaftliches Phänomen überhaupt?
Zwar ist der Pauperismus als Form der Massenverarmung die erste große strukturelle Armutsproblematik, und besonders deswegen interessant, weil aus ihr wohl die wissenschaftliche und politische Beschäftigung mit der Armut entsprungen ist. Armut im weiten Sinne begleitet die Menschheitsgeschichte allerdings nicht erst seit dem ausgehenden Mittelalter. Der Zugang zu frühen Gesellschaftsformen ist aber um so schwerer, je weiter sie zurückliegen. Immerhin führt Gerhard Schäubles Untersuchung etwa bis zu Sklavenhalter- und sogar bis zu Typen von Urgesellschaften zurück.
Schäuble sieht eines seiner Ziele darin, verschiedene Armutsdefinitionen
"in ihre jeweiligen Kontexte zu plazieren und aus deren Annahmen und spezifischen Beschränkungen heraus zu erörtern."
Er begründet seinen historischen Ansatz damit, daß es ein ausreichendes Verständnis von Armut erfordere, deren einzelne Dimensionen auf ihre Genese hin zurückzuverfolgen. Er kommt u.a. zu dem Ergebnis, daß einige Dimensionen der Armut in sogenannten primitiven Kleingesellschaften, wie auch in einigen Großgesellschaften, nicht vorkommen, dafür aber andere Dimensionen eine beachtliche Bedeutung haben. Er schlägt nicht nur einen historischen, sondern auch einen kulturübergreifenden Ansatz vor, um aus den analysierten Schwerpunktverlagerungen der Problematik reichhaltige Belege für einen mehrdimensionalen Armutsbegriff zu erhalten.
Schäuble versucht, verschiedene Armutsverständnissse von absoluter Armut bis hin zu multipler Deprivation in ihren signifikantesten Erscheinungsformen zu präsentieren, um eine komplexe Grundlage für Beseitigung der Problematik erarbeiten zu können.
2.1 Absolute Armut
Bedürfnisorientierungen sind nach Schäuble der Ausdruck gesellschaftlich geprägter individueller Energien. In einem einfachen Verständnis als Indikator für die Differenzen zwischen Ist- und Sollzustand sind sie der Motor für die zur Selbsterhaltung notwendigen Handlungen.
"Die [notwendigen - D.E.] Bedürfnisorientierungen werden in allen menschlichen Gesellschaften angetroffen. Sie erscheinen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Ausprägungen als die Grundbedürfnisse zur körperlichen Selbsterhaltung."
Fehlt die Fähigkeit zur Selbsterhaltung in diesem Sinne, so ist (wie auch schon unter 1. angesprochen) von absoluter Armut die Rede. Dieser sich auf individuelle Fähigkeiten zur schieren Selbsterhaltung konzentrierende Armutsbegriff ist aber nach Schäuble aus drei Gründen stark eingeschränkt:
"Die Menschen existieren real nirgends als biologisch-Einzelne [...]. Die sozialen Bedingungen spielen eine erhebliche Rolle.
Die Verwendung von Preisgrößen ist nicht ohne weiteres von Land zu Land übertragbar. Preise für gleiche Waren sind aufgrund unterschiedlicher Lebenshaltungskosten [...] in einzelnen Ländern unterschiedlich hoch.
Das Niveau der Lebensbedingungen der Menschen wird im Laufe der Geschichte durch sie selbst verändert. Unterschiedliche gesellschaftliche Niveaus existieren gleichzeitig innerhalb und außerhalb einzelner Gesellschaften. Gesellschaftliche Mechanismen regeln die Verteilung der Mittel auf die Menschen. Es kann daher bei diesem Verfahren nicht geklärt werden, wodurch die unzureichende Versorgungslage entstanden ist und wie sie behoben werden kann."
Ein körperliches Überlebensniveau sei zu abstrakt und werde der menschlichen Realität nicht gerecht, schreibt er weiter. Entsprechend werden sich Armutsvermeidungsstrategien, die sich an einem solchen Armutsbegriff orientieren, darauf beschränken, die objektiv ermittelten Betroffenen mit Nahrung, Kleidung und Obdach zu versorgen.
Massenhaft tritt das Phänomen der absoluten Armut auch heute noch in Drittweltländern auf. Schäuble unterscheidet drei Ursachenkomplexe, die sich in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander befinden:
Die äußere Natur; die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion der Menschen; die individuelle physisch-psychische Natur jedes einzelnen Menschen.
Der erste Komplex beinhaltet Wirkungen im genetischen (Erbkrankheiten im allgemeinen etc.), im geographisch-klimatischen (Ertragsfähigkeit des Bodens etc.) Bereich und im Bereich der Unberechenbarkeit der Naturelemente (Sturmfluten etc.). Wie weit allerdings diese Wirkungen reichen, hängt von der Fähigkeit der jeweiligen Gesellschaften ab, mit diesen umzugehen.
Der zweite Ursachenkomplex ist von besonderer Bedeutung, weil starke Umwälzungen innerhalb historisch verankerter Lebensweisen scheinbar hohe Armutsrisiken bergen. Dies betrifft vor allem zunächst die Frage, wie es zum Massenelend innerhalb der (ehemals) kolonialisierten Länder, die ausnahmslos den Umfang der heutigen dritten Welt ausmachen, gekommen ist. Welche Lebensweisen vermögen die Menschen in Not und Elend zu stürzen?
Untersuchungen der Urgesellschaften hinsichtlich ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen sind Gegenstand wirtschaftsanthropologischer Arbeiten. Dieser Untersuchungen bedient sich Schäuble, um einen Zugang zu frühen Formen struktureller Armut zu bekommen. Interessant ist für ihn vor allem, daß bereits um 3000 v.Chr., als Schrift und Geschichtsschreibung im engeren Sinne entstanden, Überlieferungen eine starke soziale Differenzierung der schriftbenutzenden Gesellschaften deutlich machen. Soziale Ungleichheit und Armut sind in diesen Gesellschaftsformen strukturell verankert. Armut begleitet demnach die Menschheitsgeschichte bereits seit Beginn der Geschichtsschreibung. Die Ursachen der sozialen Ungleichheit, die offenbar eine übergeordnete Ursache der hier fokussierten Armutsprobleme ist, werden dadurch aber noch nicht erklärt.
Im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Menschen nimmt die Organisation der Produktion und Reproduktion, die Aneignung der Natur und die damit verbundene Steigerung der Kommunikationskomplexität sowie die Herausbildung von sozialen Hierarchien eine zentrale Rolle ein. Ohne hier auf Einzelheiten von Schäubles Erörterungen über Produktions- und Verwandtschaftssysteme eingehen zu können, die den Übergang von punktuellen zu langfristigen Ökonomien beschreiben, kann doch seine erste wichtige These nicht unberücksichtigt bleiben:
"Erst die unter Ausnutzung von Autorität und/oder Zwang durchgesetzte Segmentierung in Bevorzugte und Benachteiligte bei der Verteilung des Erzeugten, kann gesellschaftliche Formen dauerhafter Armut hervorbringen. Im Unterschied zu jenen Ausnahmesituationen, wo die gesamte Lebensgemeinschaft an der Grenze der Fähigkeit zur Sicherung der körperlichen Existenz, weisen diese Formen der Armut positionell zugewiesene Lebenslagen auf."
Differenzierte Organisation der Produktion und Reproduktion geht einher mit sozialer Kontrolle, mit Kontrolle der Zirkulation der Produkte, mit Hortung und Akkumulation sowie mit der Entstehung von Klassengesellschaften. Auch Sklaverei ist nach Schäuble in diesen Kontext zu verorten.
Das Auftreten absoluter Armut, kann allerdings in Urgesellschaften und vor- und frühgeschichtlichen Gesellschaften insgesamt nur punktuell verfolgt werden. Trotz der oben angesprochenen Armutsrisiken, kannten die meisten Urgesellschaften Armut nicht. Wesentliche Ursache hierfür war laut Schäuble das herrschende Normensystem, das die geographisch-populative Interaktionsdichte stützte, und die Eltern-Kind- bzw. Verwandtschaftsinteraktionen in den Hintergrund drängte. Wenn ein Normensystem bestimmend ist, welches den Ausschluß von jungen, alten, kranken und verletzten Menschen rechtfertigt, so tritt absolute Armut praktisch nicht auf. Alle unmittelbar unproduktiven Gemeinschaftsmitglieder werden ausgeschlossen, um das Gleichgewicht von Konsumtion und Produktion zu erhalten. Erst mit der Verringerung der psychischen Distanz zwischen Eltern und Kindern treten Fürsorgepflichten im Laufe der Geschichte auf und die Tötung von Kindern und Alten wird nicht mehr praktiziert. Bis dahin ist es nach Schäuble allerdings üblich, die tendenziell entstandenen Armutspopulationen aufgrund ihrer spezifischen Stellung in der Hausgemeinschaft radikal zu beseitigen.
Karl Polanyi allerdings betont in seiner Analyse der historischen Veränderung der Wirtschafts- und Sozialstruktur von Gesellschaften dagegen die starken sozialen Bindungsenergien in vorindustriellen Gesellschaftsformen. Entscheidend ist für ihn nicht die nichtintegrative Behandlung der von Armutsrisiken Betroffenen in sozialen Zusammenschlüssen sondern die überlebenssichernde Funktion des Prinzips der Reziprozität sozialen Verhaltens.
"Im weiteren Sinn gilt [...] die These, daß alle uns bekannten Wirtschaftssysteme bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa auf den Prinzipien der Reziprozität oder Redistribution oder aber Haushaltung beziehungsweise einer Kombination dieser drei beruhte. [...] In diesem Rahmen wurde die geordnete Produktion und Distribution von Gütern durch eine Vielfalt von individuellen Motivationen gesichert, die ihrerseits durch allgemeine Verhaltensnormen in Schranken gehalten wurden. [...] Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensformen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten."
Charakteristisch für die Urgesellschaft sei neben der sozialen Reziprozität die strenge, zentral organisierte Redistribution. Die Produktion für den Eigenbedarf stand ihm zufolge schon immer stark im Hintergrund. Er behauptet, es sei erwiesen, daß es den vereinzelten Wilden, der nur für sich oder seine Familie jagte, nie gegeben habe. Dieses Faktum und die Überschattung der ökonomischen Motivationen durch die nichtökonomischen, machen all jene Handlungen im Rahmen des Sozialgefüges dominant, die das Sozialprestige innerhalb der Gemeinschaft steigern und den Normen insgesamt gerecht werden.
"Der Vollzug sämtlicher Tauschakte in Form von Geschenken, wobei Reziprozität erwartet wird, wenn auch nicht unbedingt von seiten der selben Person, ist ein Vorgang, der genauestens ausgeklügelt ist und durch umständliche Methoden der Publizität, durch magische Riten und durch die Schaffung von Dualitäten, in denen Gruppen durch gegenseitige Verpflichtungen verbunden sind, perfekt abgesichert ist; das sollte schon an sich verdeutlichen, daß man keine Vorstellung vom Begriff des Gewinns hatte oder vom Reichtum, außer in Form von Gegenständen, die traditionsgemäß der Stärkung des Sozialprestiges dienten." (Hervorhebung - D.E.)
Es läßt sich daraus folgern, daß Armut nicht nur durch die natürliche Regulierung des Verhältnisses von Bevölkerungsdichte und Bodenertrag sowie durch Ausgrenzungsmechanismen geregelt wurde, sondern, daß Armut viel eher solange vermieden wurde, wie die wirksamen Handlungen innerhalb des Sozialgefüges zugleich sozialprestigesteigernd waren.
Der dritte Ursachenkomplex behandelt den Einfluß der individualmenschlichen Natur auf die Entstehung von absoluter Armut. Die individualmenschliche Natur ist die innere Natur, die sich durch die Wirkung gesellschaftlicher Prägung auf individuelle Strukturen formiert. Welche Eigenbeteiligung ein Mensch in einem gemeinschaftlichen Zusammenhang an der Produktion und Reproduktion einbringen kann, hängt nicht nur wie zuvor gezeigt davon ab, wie er sich durch die herrschenden Organisationsstrukturen einbringen darf, sondern auch davon, wie er sich durch seine biologische Konstitution und seine Bedürfnisorientierungen einbringen kann. Auch biologische Bedingungen auf individueller Ebene können Armut verursachen. Entscheidend ist, wie individuelle Fähigkeiten und Neigungen von einer gesellschaftlich konstruierten Normalleistungsfähigkeit abweichen, und wie die Gesellschaft auf solche Abweichungen reagiert.
Der Privathaushalt sowie die wesentlich über Verwandtschaftsbeziehungen organisierte Kleingruppe als Ort der produktiven und regenerativen Lebensgrundlage tritt bei zunehmender Industrialisierung im Laufe der Geschichte in den Hintergrund und wird schließlich fast vollständig entkräftet. Im Gegensatz zu den Reproduktionsaufgaben der Familie, die noch immer zentral für die soziale Organisation ist, nimmt die Ausgrenzung der materiellen Produktion aus dem Lebenszusammenhang der Hausgemeinschaft zu. Erst der Verlust der Produktionsmittel auf individueller oder Kleingruppen-Ebene, und damit auch der Verlust der autarken Selbsthilfemöglichkeiten, wie auch die Trennung von Erwerbsarbeit und Freizeit in zwei Lebensbereiche provozieren öffentliche Systeme zur Sicherung der individuellen Existenz. Es entstehen vollkommen neue Institutionen der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit für soziale Sicherheit der risikobehafteten Gruppen. Außer radikaler Ausgrenzung als Umgang mit der Armutsproblematik wird die soziale Integration von Armen bei auseinanderfallenden Lebensbereichen aber immer aufwendiger.
Es entstehen mit dem gesellschaftlichen Wandel und der geänderten Thematisierung auch weitere Formen von Armut jenseits der absoluten Armut, die hier beleuchtet werden sollen. Ob die Begründung Polanyis oder aber die Schäubles für die geringe Armutspopulation in Urgesellschaften zutreffend ist, scheint umstritten. Zwar sind die beiden Ansätze nicht prinzipiell widersprüchlich, aber schwierig in eine Interpretation zu integrieren.
Im Schaubild 1 tritt die bisher behandelte Form der Armut als existenzielle Notlage auf. Die Form der Benachteiligung entspricht dem, was unter 1. als relative Armut bezeichnet wurde, während die Anspruchsarmut dem subjektiven Ansatz gleichzusetzen ist. Die zweite und dritte Form tritt erst im Laufe der Industrialisierung und der damit verbundenen Normenveränderung auf.
Schaubild 1
2.2 Die Entstehung des sozialen Existenzminimums als gegenwärtiger Armutsstandard
Weiter oben wurde angesprochen, daß mit dem Auseinanderfallen der Hausgemeinschaft als Ort der materiellen Existenzsicherung neue Institutionen als Einkommensquellen für Individuen etabliert werden. Neben der in den Hintergrund tretenden Familie entwickeln sich der Staat, der Markt und der Nonprofitsektor zu Sektoren für die Lösung von Problemen der sozialen Sicherung. Das Einkommensniveau eines Haushalts als ökonomische Größe (1 - n Personen) wird seit der Entwicklung der vier Sektoren zusammengesetzt aus Markteinkommen, Transfereinkommen, haushaltsbezogener Selbsthilfe und aus erhaltenen Leistungen aus dem Nonprofitsektor.
"Erst aus dem Zusammenwirken der partiell selbstregulierten gesellschaftlichen Sektoren, des Marktes, des Staates, der Familie (Verwandtschaft/Haushaltsgemeinschaft[)] und des Nonprofitsektors ergibt sich eine Gesamtschau der Sicherung gegen potentielle und faktische Notlagen des einzelnen in der Industriegesellschaft."
Entscheidend wird für die Entwicklung der Armutsproblematik zunehmend, wie Markt- und Transfereinkommen ein Subsistenzminimum aller Haushalte garantieren. Staatliche Einrichtungen sollen, um extreme soziale Unterschiede zu vermeiden, unzureichende Markteinkommen durch höhere Transfereinkommen kompensieren. Wo menschliche Arbeit zunehmend durch technische Hilfsmittel ersetzt wird, sinkt aber (ceteris paribus) nicht nur das Markteinkommen auf individueller Seite, sondern auch das Haushaltsvolumen des Staates, aus denen die Transfereinkommen gespeist werden.
Das staatlich garantierte Mindesteinkommen bewegt sich in einem Bereich zwischen Existenznot und relativer Benachteiligung. Es wurde eingerichtet, um in der risikobehafteten komplexen Organisation von Reproduktion und Produktion die am stärksten Benachteiligten abzusichern. In Gesellschaften, in denen es eine solche Einrichtung gibt, ist deshalb von Armut weitestgehend in einem anderen Sinne die Rede: arm sind diejenigen Personengruppen, die das staatliche soziale Existenzminimum beziehen. Dieses Existenzminimum soll einen Lebensstandard garantieren, der über den der unteren Lohngruppen nicht hinausgeht, aber andererseits mehr als die physische Existenz sichern soll. So soll ein Leben in Menschenwürde garantiert werden. Gravierende soziale Ungleichheiten insgesamt werden von dieser Definition allerdings nicht berührt.
Diese Art von Armut ist keine rein absolute Armut mehr, sondern eine, die relative (zum Einkommen unterer Lohngruppen) und absolute (Warenkorbmodell) Komponenten enthält. Mit der Einrichtung eines Mindesteinkommens wird das Befinden in einer existenziellen Notlage praktisch ausgeschlossen. Interessant sind die starken Verknüpfungen zwischen sozialpolitischer Einrichtung, Beschreibungsvokabular und dem Gegenstand statistischer Erhebung einerseits und der Existenz von durch das System Benachteiligten andererseits. Armut ist wirklich das, was durch die genannten Parameter politisch geformt, sprachlich beschrieben und vermittelt und statistisch erhoben wird.
Zunächst soll genauer aufgezeigt werden, wie der gewaltige gesellschaftliche Strukturwandel zu einer neuen Form der Armut und zur Einrichtung eines Existenzminimums geführt hat. Um ein ausdifferenziertes Bild als Grundlage für weitere Schlußfolgerungen zu gewinnen, müßte die Armut in unterschiedlichen Epochen genauer untersucht werden. Ob es tatsächlich einen strengen Zusammenhang zwischen neuer Armut und der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft gibt, muß zunächst noch offen bleiben. Es wird versucht, ein offeneres sozio-kulturelles Entwicklungsmodell als roten Faden zu verwenden, in dem es für die Betrachtung der Armut als hinreichend erscheint, davon auszugehen, daß sich erstens (wie schon zuvor bemerkt) ursprüngliche einheitliche Reproduktions- und Produktionsverhältnisse in komplexere und gespaltene Varianten entwickeln, und, daß zweitens ein technischer Fortschritt mit akkumulativem Charakter beobachtbar ist, der sich (vermutlich unumkehrbar) zu immer komplexeren Formen entwickelt.
Damit läßt sich zeigen, wie sich die Armutsproblematik mit der Entwicklung der Industriegesellschaften historisch vollzogen hat, und wie sie mit der Komplexitätssteigerung der Produktionssphäre von Industriegesellschaften auch heute noch systematisch verknüpft ist. Vermieden werden kann aber der strenge Rekurs auf Klassenmodelle sowie auf unilineare geschichtsdeterministische Modelle. Tatsache ist, daß sich ein massiver sozio-kultureller Wandel vollzogen hat, und, daß die Armutsproblematik damit verknüpft ist.
Die weitere Argumentation orientiert sich stärker an Polanyis These, als an solchen, die ihren Ursprung in Arbeiten von Adam Smith oder Karl Marx haben. Die These zielt darauf ab (wie schon weiter oben angedeutet), daß es keine lineare Entwicklung innerhalb der Geschichte der Menschheit gab, sondern, daß es vielmehr einen Bruch gab, der die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Gemeinschaften gänzlich umgestoßen hat. Dieser Wandlungsprozeß beginnt mit dem ausgehenden Mittelalter und beschreibt die industrielle Revolution, die Polanyi als "The Great Transformation" bezeichnet. Die zweite wesentliche Aussage betrifft die logische Geschlossenheit des Prozesses und besagt, daß die Entwicklung von einer ganzen Reihe Faktoren gesteuert wurde, die so vielfältige Einflußweisen haben, daß eine klare Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung, gar eine Geschichtslogik, ausgeschlossen ist. Entscheidend ist für Polanyi, daß es die beherrschende Funktion des Marktsystems herauszuarbeiten gilt, die (im Gegensatz zu allen früheren Formen gesellschaftlicher Organisation) nicht nur dominant, sondern auch getrennt von aller sozialer Bindung organisiert ist (eine starke und auch zugleich umstrittene These). Die soziale Gesellschaftssubstanz wird den Gesetzen des Marktes untergeordnet. Die entstandene Marktgesellschaft weist ihm zufolge erhebliche strukturelle Defizite in bezug auf die sozialen Bindungen auf, die er u.a. anhand verarmter Tausch- und Austauschbeziehungen verdeutlicht.
Schäuble nennt vier zentrale Armutspopulationen, die im Laufe der Entwicklung der westlichen Industriestaaten aufgetreten sind:
Diese möchte er unter drei Fragestellungen untersuchen:
"(1) Welche gesellschaftlichen Separierungsprozesse und Beschränkungen von sozialen Aktivitäten führten jeweils zur Armut und welche zu ihrer Überwindung?
(2) Wie verhielten sich die von der Armut bedrohten bzw. in die Armutslage gebrachten/gegangenen
2.2.1 Untersuchung der antiken Sklaven
Sklaverei als Praxis der Aneignung von Menschen durch Menschen gibt es bis in das 20. Jahrhundert hinein. In den U.S.A wurde die Sklaverei erst in diesem Jahrhundert wirklich abgeschafft. Verdrängt wird auch, daß es selbst in Deutschland in diesem Jahrhundert Formen der Sklaverei gab. Deportierte Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene wurden während des Nationalsozialismus ganz offensichtlich wie Sklaven behandelt.
Sklaverei ist meist dort entstanden, wo es rechtsfreie Räume gab. Zwar gab es innerhalb von Gemeinschaften Regelsysteme mit zum Teil starkem Geltungscharakter, zwischen Gemeinschaften allerdings kaum.
"Aus dieser rechtlich schutzlosen Lage von durch Krieg, Raub oder List erbeuteten Feinden und Fremden (Barbaren) wird häufig die Entstehung der Sklaverei im Altertum erklärt."
Als Grund für die Entstehung einer Armutspopulation kann also einerseits auf die legitime Erbeutung von Feinden und Fremden verwiesen werden, andererseits auf die zunehmende Hegemonialstellung der Heerführer und Adligen. In Griechenland spielten die Sklaven in der Zeit von 700-100 v.Chr. auch wirtschaftlich eine bedeutende Rolle. Sie garantierten neben den besitzlosen, freien Lohnarbeitern den hohen Lebensstandard des privilegierten Standes, der sich u.a. durch Grundbesitz und durch den Handel, der durch die Einführung der Geldwirtschaft forciert wurde, gebildet hatte.
Gerieten die freien Lohnarbeiter in eine existenzielle Notlage, waren sie meist auf Spenden aus den genannten staatlichen oder kultisch organisierten Bereichen angewiesen. Die Sklaven waren auf ihre Sklavenhalter angewiesen, Betteln war keine übliche Praxis. Selbst wenn die Unterprivilegierten sich in keiner direkten existenziellen Notlage befanden, können sie unter den heutigen Armutsstandards als arm bezeichnet werden, da ihnen nur die lebensnotwendigen Dinge zugestanden wurden.
Die Antwort auf die Frage nach der Reaktion der von Armut Betroffenen auf ihre Situation sieht Schäuble am Beispiel der Sklaven auf zwei grundlegende Verhaltensweisen hin reduziert. Entweder Anpassung mit dem Ziel, sich freikaufen zu können, freigelassen zu werden oder den Zustand bis zum Tode hinzunehmen. Oder kollektiven Widerstand zu leisten, mit dem Ziel, Tagelöhner oder Sklave bei einem anderen Herren zu werden bzw. den Sklavenstatus generell aufzuheben. Große Widerstandsbewegungen gab es allerdings erst während der römischen Antike, die auch durch den zunehmenden Einfluß des Christentums und des damit verbundenen neuen Normensystems geprägt waren. Es gab zwar bei den Griechen, wie auch bei den Römern, ein beschränktes Asyl- und Beschwerderecht. Dies konnte für die Sklaven aber nicht mehr leisten, als die Bitte an den Herrn, den Sklaven besser zu behandeln, den Verkauf des Sklavens zu fördern, oder ein Asyl im Tempel zu gewähren.
Mit dem langsamen Zusammenbruch der Sklaverei war aber keinesfalls das Armutsproblem gelöst. Sklaverei war ein Ausbeutungsmechanismus während einer Phase, die ihre Ursprünge in rechtlich undefinierten Räumen hatte. Die soziale Lage der Sklaven verbesserte sich seit dem 3. Jahrhundert nicht wesentlich, der Freiheitsgewinn bestand lediglich in dem Übergang von einer Sklavenhaltergesellschaft zu einer, in der Untertänigkeitsverhältnisse vorherrschten. Die freien Lohnarbeiter und freien Landwirte, die zunehmend einen großen Teil der Armutspopulation ausmachten, waren Opfer der Macht- und Kapitalakkumulation, die sich verstärkt entwickelte. Die ursprüngliche Verteilung des Bodens über große Teile der Bevölkerung wandelte sich zu einer Verteilung unter Großgrundbesitzern. Freie Bauern wurden Pachtbauern, da sie es vorzogen, anstatt einer ständigen Gefahr durch die Kriege ausgesetzt zu sein, sich der Herrschaft eines Patrons unterzuordnen.
2.2.2 Der mittelalterliche Pauperismus
"Das Wort pauper, pauperis stammt aus der lateinischen Sprache und meint arm, unbemittelt oder bezogen auf Sachen ärmlich, beschränkt, mäßig; [...]"
Obwohl der Begriff des Pauperismus in der Literatur in vielfältiger Weise und für unterschiedliche Epochen gebraucht wird, ist er doch durch seine Gebundenheit an vorherrschende Formen der agrarischen Privatproduktion und den damit verbundenen Sozialstrukturen eingrenzbar. Er wird deshalb für die Armutslage der betroffenen Schichten innerhalb einer historischen Entwicklung zwischen dem 5. und dem 18. Jahrhundert verwendet.
Im Übergang von den zentralistischen Imperien mit Sklaverei zu den regionalen Fürstentümern des Feudalismus bildete sich eine neue Armutspopulation heraus, die wesentlich aus zwei Gruppen bestand: 1) die abhängig Dienenden und diskriminierten Standlosen; 2) die freiwilligen und ständischen Armen. Die Situation der ersten Gruppe ist durch die Sozialstruktur des Ständesystems definiert, während in der zweiten Gruppe individuelle soziale Abstiegskarrieren prägnant sind. Zwar ist die christlich motivierte freiwillige Armut nur während des Mittelalters eine relevante Größe. Um das Spezifikum des Pauperismus zu definieren, reicht sie allerdings nicht aus.
"Während die freiwillige, primär religiös legitimierte Armut und die ständische Armut aus ökonomischer Sicht soziale Abstiegsprozesse kennzeichnen, ist für die abhängig Dienenden und die diskriminierten Standlosen die sozialstrukturelle Bodenlage von Geburt her vorgegeben. [...] Beiden Hauptgruppen ist gemeinsam, daß sie weder Grund und Boden noch Betriebsvermögen ihr volles Eigentum nennen können und deshalb ihrer Herkunft nach zur Bettelei, Possenreißerei etc. oder Lohn-/Frohnarbeit gezwungen sind, womit ein niederer sozialer Status einhergeht."
Entscheidend ist die durch den vorausgehenden Zerfall der Großreiche entstandene Herausbildung der Metropolen und Pächterzellen mit zugehörigen Grundherren einerseits und die Entstehung des mächtigen Ständesystems andererseits. Es ergaben sich zunächst die drei Stände Beter, Kämpfer und Arbeiter, wobei sich innerhalb des dritten Standes durch das Wachstum der Städte und die zunehmende Bedeutung des Handels eine Spaltung in lohnabhängige Arbeiter und besitzende Bürger vollzog.
Die Ständegesellschaft war deshalb so stabil, weil sie von der Ideologie einer gottgewollten Ordnung geprägt war. In das Sich-Befinden in einem Stand wurde man hineingeboren und konnte so sich nicht davon lösen.
"Mit dem Aufstieg des Papsttums und der Anerkennung als staatlich anerkannte Kirche wurde die römisch-katholische Kirche zum bestimmenden Ordnungsfaktor des gesellschaftlichen Lebens."
Alle, die den Betern oder den Kämpfern zugeordnet wurden, oder sich durch Zunftbildung in den Städten als zu den Handwerkern zugehörig erweisen konnten, standen vielleicht in einem machtgeprägten Abhängigkeitsverhältnis, waren aber praktisch nie von Armut betroffen. Zunächst waren alle diejenigen von Armut betroffen, die nicht in das Ständesystem integriert wurden. Während der Regionalisierung des Marktes und der Herausbildung der Stände waren also alle besonders von Armut betroffen, die erstens im mittelalterlichen Abhängigkeitsverhältnis zu den Unfreien gehörten, also v.a. Fußknechte (Kämpfer) und Bauern, Leibeigene (Arbeiter), und zweitens all diejenigen, die nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. In einem zweiten Schritt während der Phase der wieder verstärkten Expansion der Wirtschaft (Merkantilismus, Kolonialisierung, Manufakturbildung, Entstehung der Bourgeoisie, Bildung von Nationalstaaten), des Beginns der industriellen Revolution und der Auflösung des Ständesystems, tritt der frühere Arbeiterstand in zweierlei Hinsicht neu auf: Einmal in Form der besitzenden Händler, die neben den Großgrundbesitzern zum Großteil die Bourgeoisie bildeten, und andererseits in Form der verarmten Landbevölkerung, die zu lohnabhängigen Arbeitern werden (Proletarier).
Zwar produzierte die Feudalgesellschaft mit ständischer Sozialstruktur eine Armutspopulation, zu deren Abschaffung sie keine organisierte Verwaltung etablieren konnte, und es ist offensichtlich, daß diese Gesellschaftsform ideologisch geprägte Ausgrenzungsmechanismen hatte, ein starkes Anwachsen der Armutspopulation ist für diese Epoche allerdings auch nicht zu verzeichnen, da die starke Bevölkerungsvermehrung besonders in den armen Bevölkerungsschichten durch Krankheiten und religiös motivierte Geburtenregelung gedämpft wurde.
Erst als unter fast gleich gebliebenen Besitz- und Herrschaftsverhältnissen die ständische Ordnung durch die Entstehung der bürgerlichen Produktionsweise zerbrach, und die Bevölkerung durch die verbesserte medizinische Versorgung stark anwuchs, entstand auch eine Massenarmut, der mit einer unorganisierten Armenpflege und -politik nicht mehr beizukommen war.
"Das System der ständischen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft kam mit der städtischen Geld- und Verkehrswirtschaft ins Rutschen. [...] Zersprengt wurden die genossenschaftlichen Bindungen, ihre Sicherheiten, weil gegen das Geschäftemachen auf eigene Faust, gegen Kalkulation und Spekulation mit selbstgenügsamer Produktion und Zunftmonopol nicht anzukommen war. Die Verbindungen zwischen Handel, Gewerbe und Staat wurden ab 1650 enger geknüpft. [...] Erst in der zweiten Hälfte des 15.Jh. begann die Bevölkerung Europas stark zu wachsen; von 60 Mill. Ende des 15.Jh. auf 90 Mill. Ende des 17.Jh. ; in Deutschland von 10 auf ca. 16 Mill. [...] Nach 1700 wurde Europa bis in die Mitte des 18. Jh. weiter von agrarischen Krisen und Preisinflation geschüttelt. Innerhalb eines Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung Europas von 100 - 120 Mill. um 1700 auf 180 - 190 Mill. um 1800. [...] Die Produktion der Massenarmut zum ausgehenden Mittelalter ist somit ein Produkt von Kriegen, Seuchen, Hungerkatastrophen, des Bevölkerungswachstums, der Auflösung der ständischen Gesellschaft und ihrer statischen Wirtschaftsweise."
Im Gegensatz zu den in absoluter Armut lebenden Menschen in Urgesellschaften, wird hier Armut schon eher als ein spezifischer Gefahrenbereich zu verstehen sein müssen, da von Armut betroffen zu sein zwar heißt, auch dauerhaft von absoluter Armut betroffen sein zu können, eine größere Rolle spielt aber das potentielle Risiko und eine minderwertige Ausstattung mit Rechten, die andere Gesellschaftsmitglieder in vollem Maße genießen konnten. Eine Armutspopulation wurde durch ein nicht ausreichendes Almosen- und Zehntpflichtsystem als auch durch Kriege, Seuchen, herrschaftliche Willkür und Zunftmonopole aufrechterhalten.
Obwohl die Kirche Reichtum in gewaltigem Ausmaß akkumulieren konnte, war die Armenpflege innerhalb der Kirche (gemessen an den Möglichkeiten) ein benachteiligter Bereich. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß sich die asketisch-solidarische Richtung innerhalb der christlichen Lehre nicht durchsetzten konnte, und Machtausweitung gegenüber der Durchsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen schon immer Vorrang hatte.
Die Armen- und Arbeitshäuser, die aus Spenden und öffentlichen Mitteln finanziert wurden, sieht Berthold Dietz untrennbar von einer allgemeinen Ghettoisierung und Disziplinierung derjenigen, die für die Gemeinschaft ein Ordnungsproblem darstellten.
"Die britischen houses of correction wurden bereits 1575 für alle Grafschaften vorgeschrieben und aus öffentlichen Mitteln und Spenden finanziert. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden in allen Teilen Europas Armenhospize und Arbeitshäuser umgestaltet oder errichtet. Hervorgegangen sind sie aus der päpstlichen Idee der Ghettoisierung [...]".
"In dieser Phase vorindustrieller Produktion erfüllten die Internierungseinrichtungen somit eine mehrfache Funktion: Sie waren zugleich ordnungspolitische (Disziplinierung und Segregation), armenpolizeiliche (Internierung und Bestrafung) und wirtschaftliche (Zwangsarbeit ohne Entgelt oder für Hungerlöhne) Maßnahme. Die sozialpolitische Unwirksamkeit hingegen [...] führte dazu, daß die Arbeitshäuser spätestens mit Beginn der Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Europa als weitläufige Erscheinung an Bedeutung verloren."
Für das ausgehende Mittelalter ist außerdem signifikant, daß die an Bedeutung verlierende freiwillige Armut in der christlichen Heilslehre durch einen weitgehend auch heute noch existierenden Arbeitsethos abgelöst wurde. Das Heil war von da an in der aufopferungsvollen Arbeit zu finden, was sich auch auf das Verhältnis von Arbeit und sozialer Mitgliedschaft immer strenger auswirkte.
Die erste große Gruppe der Armen, die dienstverpflichteten Leibeigenen etc., waren durch zweierlei Abhängigkeitsverhältnisse an ihre Situation gebunden: 1. Die persönliche Abhängigkeit zu ihrem Herren in einem Recht-Pflicht-Verhältnis, welches durch das Gewaltpotential des Herren aufrechterhalten werden konnte, sowie die materielle Abhängigkeit vom Boden, der den Bauern zum überwiegenden Teil nur verpachtet wurde; 2. Eine ideologische Abhängigkeit vom christlichen Glauben, der die ständische Ordnung stabilisierte. Während die ideologische Abhängigkeit in zunehmendem Maße (wie schon beschrieben) abnahm, waren die Befreiungsmöglichkeiten von der Abhängigkeit vom Herrn äußerst begrenzt. Tatsächlich hatte diese aussichtslose Situation zweierlei Folgen: erstens eine Zunahme der städtischen Pauper, bzw. später der Proletarier, und zweitens der Versuch, den Status des bodengebundenen Dienstverpflichteten durch Aufstände zu verbessern. Viele der Pachtbauern waren zu Abgaben durchaus bereit, wollten aber den Zustand der Willkürherrschaft und des geringen Einkommens abgeschafft sehen. Obwohl die von der Landbevölkerung ausgehenden Aufstände keine komplette Umwälzung der damals bestehenden Verhältnisse bewirken konnten, waren sie doch vor allem vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts nicht ohne Ergebnis. Die bekannten Bauernaufstände von 1526 etwa hatten neben der Anerkennung des Kaisers bzw. der Territorialfürsten einige Forderungen zur Verbesserung der Situation der Pachtbauern zum Inhalt:
Die Forderungen standen im Rahmen christlich-reformatorischer Gedanken der Gleichheit vor Gott und der Verteidigung von Gewohnheitsrechten der Bauern. Sie zielten nicht auf Regierungsbeteiligung und implizierten auch keine utopischen Vorstellung einer ganz anderen Gesellschaft.
Erreicht wurde durch die Bauernkriege eine etwa 250 Jahre dauernde, fast konfliktfreie Phase, die deshalb so stabil war, da sie erstmals durch eine wirklich institutionalisierte Konfliktregulierung getragen wurde.
Polanyi geht stärker auf die Maßnahmen der Adligen in England ein, die während der Hochphase der merkantilen Systeme versuchten, ihren Reichtum durch den damals stark gefragten Wollhandel zu sichern. Die Einfriedungen des Ackerlandes zur Nutzung als große Schafweiden war die letzte einschneidende Maßnahme in wirtschaftlicher Hinsicht auf englischem Boden, die noch dem Feudalsystem zuzuordnen ist. Die Einfriedungen waren nicht nur der wesentliche Schritt zur Enteignung der Landbevölkerung und die Grundlage für die Herausbildung des Industrieproletariats, sondern auch eine unmittelbare Ursache für Massenarmut.
"Die Einfriedungen sind zutreffend als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden. Die Lords und Adeligen erschütterten die soziale Ordnung, brachen altes Gesetz und Sitte, manchmal mit Gewalt, häufig mit Druck und Einschüchterung. Sie beraubten buchstäblich die Armen ihres Anteils am Gemeindeland, rissen die Häuser nieder, die die Armen nach bis dahin niemals gebrochenem Gewohnheitsrecht als ihr und ihrer Nachkommen Eigentum betrachtetet hatten. Die soziale Struktur wurde zerbrochen, verwüstete Dörfer und die Ruinen menschlicher Behausungen bezeugten die Grausamkeit, mit der die Revolution wütete, [...]"
Karl Marx richtet sein Augenmerk auf den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation und verfolgt dabei (wie auch Polanyi) die Entwicklung in England. Zwar sind für Marx Einfriedungsmaßnahmen mit der Folge der Enteignung der Landbevölkerung vor allem als Ausgangspunkt für seine Theorie der kapitalistischen Akkumulation von Interesse, seine historische Analyse bietet aber auch genug Material für die Betrachtung der Entstehung der Massenarmut als notwendiger Grundlage der industriellen Revolution.
"Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Oekonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. [...] In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen, die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten, als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. [...] In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle."
Im Mittelpunkt der ursprünglichen Akkumulation steht die Scheidung des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen. Sie ist nicht nur die notwendige Grundlage für das Privateigentum im kapitalistischen Sinne (in den Händen einer Minderheit) ohne die die Entwicklung einer neuen Gesellschaftsordnung nicht möglich gewesen wäre, sondern auch die Ursache von Ausbeutung, Entfremdung und der Unfähigkeit der eigenen Subsistenzsicherung. Auch Marx beschreibt die Befreiung von Zunftzwang und Dienstbarkeit, die Auflösung der Arbeitsvorschriften, die gewaltsame Trennung der Bauern von ihrem Land, sowie die Vernichtung von Gemeindeland als signifikant für die Entstehung der Klasse der Lohnarbeiter. Diese fallen in ein Abhängigkeitsverhältnis zum freien Arbeitsmarkt, der in der Regel keine Löhne bietet, die ein Leben über dem Existenzminimum ermöglichen.
Marx verzeichnet außerdem eine Zunahme der repressiven Maßnahmen gegenüber den Armen, die alternative Formen im Umgang mit der Situation der Armen im Keim ersticken sollten, und die systematisch den Zwang zur Lohnarbeit implizierten.
Die hier behandelten Untersuchungen zeigen, daß es dramatische Veränderungsprozesse in der Entwicklung von sozialer Ungleichheit und Armut gab, die einerseits auf den kontinuierlich zunehmenden defizitären Umgang mit den Folgen der Veränderungen im Bereich der Produktion und Reproduktion, namentlich der Integration der Wirtschaftssphäre in den Bereich der gesamten sozialen Beziehungen, gegründet sind; andererseits aber ist ein Bruch deutlich geworden, der den Übergang in eine völlig andere, vom Wirtschaftssystem dominierte Gesellschaftsordnung markiert.
2.2.3 Massenarmut in frühen Industriegesellschaften: das Proletariat
In der Zeitspanne von 1750 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickeln sich die Gesellschaften in Europa und Nordamerika von frühkapitalistischen zu hochentwickelten Industriegesellschaften. Der Kapitalismus wird zur dominanten Wirtschaftsform weltweit. In dieser Phase der Entwicklung wird der (Re)Produktionsfaktor Arbeitskraft die entscheidende Größe der Existenzsicherung. Besonders im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickeln sich die Spannungen durch den Expansionsdrang der kapitalistischen Wirtschaftsweise, aus denen sich unterschiedliche Varianten der Industriegesellschaft mit stark verschiedenen Machtverteilungen ergeben, die zum Teil mit dem bisher gebrauchten Vokabular nicht mehr ausreichend beschrieben werden können. Diese Varianten mit einem neuen Armutsproblem und differenzierten Lebenslagen werden in Kapitel 2.3 untersucht.
Auf die Verschiebung der Armutspopulation von den Pachtbauern hin zu den freien Lohnarbeitern als Folge der Landflucht wurde bereits eingegangen. Sie reicht aber zur Beschreibung des Phänomens der massenhaft auftretenden Armut nicht aus. Das entstehende Proletariat ist zwar zum Teil mit den freien Lohnarbeitern vergleichbar (es lebt nahe am Existenzminimum und ist besitzlos), unterscheidet sich wesentlich aber durch zwei Momente:
Das Lohnarbeitsverhältnis als gesellschaftlich dominierende Lebensbedingung führte bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung zu einer allgemeinen Verelendung oder zumindest zur Gefährdung der Überlebenssicherung.
Die allgemeine Tendenz des Entzugs der Produktionsmittel zur Existenzsicherung zugunsten einer Konzentration in den Händen weniger, die auch schon in der Feudalgesellschaft sichtbar wurde, wird durch die Aufhebung des Ständesystems nicht gebremst, sondern verstärkt. Das freie Handwerk und das Kleingewerbe konnten von der Auflösung der Zünfte nur kurz profitieren. Zwar entstanden zunächst mehr Kleinbetriebe. Die zunehmende Konkurrenz und dann die Entwicklung der in Fabriken organisierten Fertigung führte aber schnell zur Verelendung der Handwerker und Kleinproduzenten und zum Zwang der Aufnahme von Lohnarbeit in der Großindustrie.
Schaubild 2
Offensichtlich hat die Aufhebung des Ständesystems mit seinen Rechten und Pflichten und seiner ideologischen Bewußtseinsprägung zwar gewisse Freiheiten ermöglicht. Für die meisten handelte es sich aber nur um formale Freiheitssteigerung bei gleichzeitig zunehmender Abhängigkeit von den unausweichlichen Mechanismen der neuen Produktionsorganisation, die der Lohnarbeit bedingungslos bedarf und neben ihr keine Alternative duldet.
Zur Verbesserung der Situation der Industriearbeiter, und damit auch direkt zur Verbesserung der Situation des Großteils der von Armut Betroffenen, waren die im ausgehenden 19. Jahrhundert staatlich vollzogenen Reformschritte entscheidend. Diese Reformschritte innerhalb einer gegründeten Arbeiterpolitik geschahen mit Sicherheit vor dem Hintergrund der aufkommenden Gefahr des Zusammenbruchs des Systems und aus Gründen der Legitimationssicherung der stark ungleichen Machtverteilung. Die über Jahrzehnte dauernden Reformschritte schlossen u.a. ein:
Als verantwortlich für Reformschritte, die speziell die Lage der Armen verbessern sollten und die Ausgestaltung eines Rechts auf ein soziales Existenzminimum beinhalteten, ist in Deutschland vor allem Bismarck zu nennen, der die erste umfangreiche Sozialpolitik etablierte. Unter ihm entstand eine Sozialgesetzgebung, die Armenfürsorge wurde verrechtlicht und ökonomisiert. Allgemein wurde ein Bewußtsein für die gesellschaftliche Verantwortlichkeit für individuelle Notlagen gefördert. Die Rechte der sozial Benachteiligten wurden zwar Schritt für Schritt ausgeweitet und ihre Lebenssituation verbessert, trotzdem kann auch mit diesen ersten Ansätzen der Einführung einer sozialen Grundsicherung nicht von der Befreiung von Armut die Rede sein.
"Geht man der Frage nach, mit welchen Mitteln und von wem die proletarische Massenarmut überwunden wurde, so reicht es nicht aus, die gestiegenen Reallohneinkommen, die Verkürzung der Arbeitszeit und die weitgehende Beschäftigung aller dem Arbeitsmarkt zur Verfügung Stehenden anzuführen. Wenn von verwirklichtem Wohlstand für alle in der kapitalistischen Welt geredet wird [...] nimmt man nicht zur Kenntnis, daß trotz erheblicher staatlicher Umverteilung subproletarische Randgruppen bestehen und insbesondere zahlreiche alte Menschen über die Mittel für ein menschenwürdigen Lebensstandard nicht verfügen [...]. Es wird zwar jedem nicht-arbeitsfähigen bzw. -arbeitswilligen, aber nicht vermittelbaren Menschen ein soziales Existenzminimum staatlich garantiert, welches über dem physischen Existenzminimum liegt; darin die Überwindung der Armut zu erblicken, verkennt deren relative Bestimmungen." (Hervorhebung D.E.)
2.2.4 Die Entwicklung von einem kollektiven zu einem amorphen Phänomen
Durch die Leistungen der sozialen Sicherungen (Recht auf Hilfe durch Beiträge während der Erwerbsphase) gilt die proletarische Armut um 1900 in Deutschland als praktisch abgeschafft. Armut besteht dennoch in relativer Hinsicht zum durchschnittlichen Lebensstandard der Gesamtbevölkerung für viele. Und zwar für all diejenigen, die über ein zu geringes Arbeitseinkommen verfügen (und auch geringere staatliche Leistungen in Anspruch nehmen können), um sich und ihrer Familie einen hohen Lebensstandard zu ermöglichen. Und für all diejenigen, die arbeitslos und deshalb von den eben genannten Sicherungsmaßnahmen gänzlich ausgeschlossen blieben. Für sie wurde nach dem ersten Weltkrieg das Fürsorgerecht geschaffen und viel später (1962) das Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Nach dem BSHG
"erhalten in der Bundesrepublik die zu einer selbständigen Lebensführung Unfähigen und/oder die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehenden offiziellen Armen Sozialhilfe, soweit nicht andere zur Hilfe Verpflichtete herangezogen werden können."
Solange allerdings die Sozialhilfe die BezieherInnen in einem Zustand relativer Armut beläßt, und die Gesellschaft keine Selbsthilfe unterstützt oder das Verlassen des Zustands des Sozialhilfebezugs unmöglich macht, tritt ein neues Problem auf: die dauerhafte, durch staatliche Sozialpolitik produzierte relative Armut. Weiterhin problematisch ist, daß die Sozialhilfe nicht alle Momente eines Lebens in Armut berücksichtigen kann. Die Wandlung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse änderte die gesamten Funktionen der Menschen als Gesellschaftsmitglieder in unterschiedlichen Lebensphasen. Die Trennung von Arbeit und Freizeit sowie von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die Rollenveränderung der Familienmitglieder, der Stellenwert des Haushalts, die Veränderung der Tausch- und Austauschbeziehungen sind offensichtlich und werden durch sozialpolitische Reformen der hier besprochenen Art nicht aufgehoben. Mit Schäuble kann deshalb ein weiteres Moment moderner Armut festgehalten werden:
"Hier entstehen spezifische Dimensionen von aktueller, nicht unbedingt ökonomischer Armut. Die inneren Energien, welche zur funktionalen Bewältigung der gesellschaftlichen Situation aufgebracht werden, produzieren bei der in der Zufälligkeit verlaufenden Suche nach Treueverhältnissen und Lebensstilen auch Brüche und weitere Trennungen. Die kommunikative Armut im Alter, die steigende Zahl psychisch Kranker sind Indikatoren mißlungener Zwischenmenschlichkeit, deren materielle Grundlage die gesellschaftliche Relativierung, Funktionalisierung[,] Tauschwertorientierung, Trennung und Aufhebung persönlicher Bindungen ist. Der materielle Schutz, welchen in Not geratene Menschen durch die Gewährung des sozialen Existenzminimums durch den Staat genießen, kann ihnen die verlorenen Bindungen nicht wiederherstellen."
"Die Hilfebedürftigkeit entsteht aufgrund spezifisch-individueller, kumulierender Mangelsituationen."
Eine staatliche Antwort auf die Existenz einer aktuellen Armutspopulation muß demnach laut Schäuble mindestens drei Ziele verfolgen, wenn sie eine Hilfe zur Selbsthilfe befürwortet:
" - Befähigung zur Lohnarbeit, damit die Personen ihre Bedürfnisse über das Beschäftigungssystem tauschwirtschaftlich befriedigen können,
- Befähigung zur Anknüpfung von zuverlässigen Treueverhältnissen nach dem Realitätsprinzip, wozu auch die Befähigung zur Auseinandersetzung mit dem Abbau der Stigmatisierungen und Diskriminierungen gehört,
- Erweiterung der gesellschaftlichen Möglichkeiten der Mitwirkung, Selbstverwaltung und qualifizierten Mitbestimmung im politischen und ökonomischen Bereich, sowie die Befähigung zur Inanspruchnahme der Rechte und Pflichten."
2.3 Armut im ausgehenden 20. Jahrhundert: wie sieht die neue Armut aus?
Mit der Einführung der Leistungen nach dem BSHG in den 60er Jahren glaubte man dem Armutsproblem vorbeugen zu können, da die Sozialhilfe die Grundbedürfnisse in einer modernen Industriegesellschaft befriedigen können sollte. Das soziale (oder soziokulturelle) Existenzminimum deckt per definitionem die Grundbedürfnisse an Nahrung, Trinkwasser, Gesundheit, Kleidung, Wohnung und Bildung. Zugleich soll die soziale und politische Partizipation für alle dadurch gewährleistet sein. Die staatliche Institutionalisierung zeigt einerseits die Anerkennung des Armutsproblems und andererseits den rechtlich verankerten Willen zur konstruktiven Lösung des Problems auf solidarische Weise. Im sozialen Netz der Bundesrepublik (welches fälschlicherweise gemeinhin als "Bismarcksches Sozialsystem" bezeichnet wird) gilt seit dieser Zeit die Leistung nach dem BSHG als letzte Auffangstelle nach den Leistungen der Versicherungen und nach den besonderen Leistungen (Kranken-, Renten-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung; Wohngeld, Kindergeld, BAFöG etc.). Die Leistungen nach dem BSHG können nicht bedingungslos in Anspruch genommen, sondern erst beantragt werden, wenn keine anderen Leistungen in Anspruch genommen werden (oder könnten), und die Prüfung der Lebensumstände nachweist, daß die beantragende Person die notwendigen Mittel zum Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten kann (a). Da die Leistungen nach dem BSHG Armut beseitigen sollen, ist bei Bezug i.d.R. von bereits bekämpfter Armut die Rede. Umstritten ist (je nach Anwendung unterschiedlicher Armuts- und sozialer Ungleichheitskonzepte), ob diese bekämpfte Armut noch eine bestimmte Form des Lebens in Armut darstellt, oder ob bereits von wirklicher Freiheit von Armut gesprochen werden kann. Alle Armut, die so nicht erfaßt wird, bleibt latente Armut, wenn die Ansprüche auf Leistungen nicht, nur zum Teil oder zu spät geltend gemacht werden.
Diese Bedingung und die starke Veränderung der Erscheinungsformen von Armut in Industriegesellschaften (b) hat dazu geführt, daß trotz des breit angelegten sozialen Sicherungssystems und der steigenden Leistungen nach dem BSHG die relative Armut bei steigendem gesellschaftlichen Reichtum massiv seit Mitte der 70er Jahre zunimmt.
a) Die Bedingungen und Prüfungen der Leistungsberechtigung fordern qualifizierte und sachkundige BearbeiterInnen und mündige BürgerInnen. Da dies i.d.R. nicht der Fall ist, führt die Umsetzung der Sozialhilfe zu sozialer Kontrolle und Stigmatisierungen. Die BürgerInnen wissen nicht um ihre Ansprüche oder haben Hemmnisse, diese zu fordern. Die SachbearbeiterInnen informieren z.T. falsch oder haben insgesamt große Probleme, ihre Sanktionsmacht richtig zu gebrauchen. Daraus entsteht eine restriktive und diskriminierende Verwaltungspraxis, die Inanspruchnahme verhindert oder durch Parasitismusvorwürfe belastet.
b) Nach modernen Forschungsansätzen zur Bestimmung relativer Armut ist das Armutsproblem v.a. durch die Abkopplung vom durchschnittlichen Lebensstandard einer Gesellschaft gekennzeichnet. Da bei steigendem Lebensstandard die Lebensverhältnisse der Armen nicht in dem Maße verbessert werden, identisch bleiben, oder sich gar verschlechtern, kann eine Zunahme der Armutspopulation selbst in reichen Industriegesellschaften beobachtet werden.
Hauser und Neumann machen (neben den individuellen Ursachen) drei Hauptgründe für Armut fest: die Funktion des Arbeitsmarktes, die Funktion der sozialen Sicherungssysteme und die Verfügbarkeit staatlicher Infrastruktur.
Relative Armut ist durch relative Benachteiligung an Bedürfnisbefriedigungsmitteln und -möglichkeiten (materieller und immaterieller Art) gekennzeichnet. Deshalb können auch SozialhilfeempfängerInnen, obwohl ihr Existenzminimum gedeckt ist, in Armut leben, weil sie einer finanziellen staatlichen Bevormundung unterliegen, die ihnen nur einen Lebensstandard garantiert, der weit unter dem durchschnittlichen Konsumstandard liegt. Je nachdem, welche Indikatoren ausgewählt werden und wie sie für die Wertung in Verbindung miteinander gebracht werden, sehen die Ergebnisse der Armutsforschung unterschiedlich aus. Wichtig ist, inwiefern objektive und subjektive Indikatoren in die Bestimmung relativer Benachteiligung eingehen.
Strittig ist außerdem, ob relative Armut als Bestandteil von allgemeinen Sozialstrukturanalysen betrachtet werden sollte, und ob daher auch grundsätzliche Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit insgesamt mit einbezogen werden sollten. Um Ursachen von relativer Armut aufzudecken, macht es durchaus Sinn, auch weitergehende Theorien sozialer Ungleichheit heranzuziehen. Zu nennen wäre hier erstens die klassische Theorie der Produktion sozialer Ungleichheit über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (Marx), die besonders bezüglich der Analyse der industriellen Revolution mit ihren Folgewirkungen brauchbar ist, allerdings auf viele Fragen der aktuellen Ungleichheitsdimensionen keine erschöpfenden Antworten gibt. Zweitens wäre die Theorie der sozialen Ungleichheit als Kennzeichen sozialer und politischer Machtverhältnisse (Claus Offes Disparitätenthese) in Betracht zu ziehen, nach der Ungleichheitsstrukturen dann nicht beseitigt werden, wenn sie keine systemdestabilisierenden Auswirkungen haben. Lebensbereiche werden nach Offe bewertet und politisch behandelt je nachdem, welche Relevanz sie für den Erhalt des bestehenden Systems haben. Drittens könnte auch die Theorie der Individualisierung sozialer Ungleichheiten (Ulrich Beck) herangezogen werden. Sie beleuchtet die fortschreitende Ausdifferenzierung der Lebensstile und die Entkollektivierung sozialer Risiken. Klassische Problemgruppen verschwinden dieser Theorie zufolge zunehmend, während Ungleichheiten und soziale Belastungen auf die einzelnen Individuen übertragen werden. Vor dem Hintergrund der sozialen Absicherung, die die Klassengesellschaft aufgehoben habe, vollziehe sich eine ökonomische und politische Dominierung durch Partikularinteressen, die immer schwerer aufdeckbar und beseitigbar werde. Materielles Risiko wird als persönliches Versagen empfunden, Armut wird mehr und mehr als lebensspezifisches Einzelschicksal wahrgenommen.
Neben den gängigen Konzepten der absoluten Armut, des gesetzlichen Existenzminimums und der relativen Einkommensarmut haben sich noch einige umfassendere Ansätze entwickelt.
Als unterschiedliche Konzepte seien hier v.a. genannt: Armut als Subkultur (culture of poverty); relative Deprivation; Lebenslage; der handlungstheoretische Ansatz und die multiple (kumulierte) Deprivation bzw. Kumulation sozialer Benachteiligung .
Oscar Lewis gilt als erster wichtiger Vertreter des Konzepts der "Culture of Poverty".
"Die 'Culture of Poverty' meint eine Kultur der Armut, oder besser gesagt, der Armen, die die Lebensweise unter Bedingungen ökonomischer Marginalität überall in gleicherweise strukturiert, unabhängig vom ethnischen oder regionalkulturellen Hintergrund der betroffenen Menschen."
Nach Lewis ist die Lebensweise der Armen geprägt von Denk- und Handlungsmustern, die von Generation zu Generation innerhalb der kulturellen Einheit weiter vererbt werden.
"Die Kernthese der Subkultur-Theorie von Lewis geht davon aus, daß eine Art circulus diabolus der Lebensverhältnisse aufgrund von beschränkten Lebenschancen [...] Verarmte in der Armut behält bzw. diese sich fortzeugen läßt und für diesen Teufelskreis bestimmte biographische Kennzeichen der Daseinsform besonders anfällig sind"
Einerseits sei zwar die Kultur der Armut eine auffällig dünne (arme) Kultur, andererseits seien die Produkte kreativer Adaptionsleistung in dieser subkulturellen Form einzigartig. Er behauptet, sein Konzept sei interkulturell übertragbar, da es an keine übergeordnete, determinierende Kultur gebunden sei, sondern immer dort auftreten könne, wo soziale Ungleichheit Bedingungen für Kultur der Armut schaffe. Da nach Lewis nicht Einkommen das signifikante Merkmal für Armut ist, sondern Verhalten, seien finanzielle Unterstützungen auch nicht ausreichend für die Bekämpfung der Armut. Ihm wurde u.a. vorgeworfen, er bereite mit der Sichtweise einer geschlossenen und sich reproduzierenden Lebensweise (die sog. "Persistenzthese") der Armen den Boden für Behauptungen der Art, daß die Armen ihre Kultur und damit ihre gesamte Situation selbst verschuldet hätten. Zwar gibt es subkulturelle Lebensweisen, die deutlich als Subkultur von Armen identifiziert werden können (etwa Obdachlosigkeit), daneben gibt es aber viele Arme, auf die geschlossene, nach innen gerichtete Wertvorstellungen nicht zutreffen. Vielmehr scheint das Armutsphänomen zunehmend individuell betrachtet werden zu müssen. Eine klare Trennung von Lebensweisen und Wertvorstellungen der Armen von denen der Mittelschicht ist i.d.R. nicht möglich. Fehlende Partizipation an der Gesamtkultur läßt noch keine Rückschlüsse auf die Einheitlichkeit alternativer Lebensformen zu. Lee Rainwater hat gegenüber Lewis herausgefunden, daß die meisten Armen durchaus Mittelschichtenwerthaltungen akzeptieren, und ihnen die Möglichkeit, ein stabiles Beschäftigungsverhältnis und höheres Einkommen genießen zu können, durchaus erstrebenswert erscheint.
"Nicht ein Festhalten an tradierten, armutsgeprägten Lebensentwürfen, sondern einen klaren Wunsch nach Möglichkeiten, neue Formen der Lebensführung kennenzulernen, die latent bereits verfügbar sind, macht Rainwater aus."
Dieter Goetze bemängelt generell die fehlende empirische Überprüfung der Anwendbarkeit des Theorems der 'Subkultur der Armut'. Lewis' Begriff sei zu widersprüchlich und habe einen untragbaren, holistischen Anspruch. Allein dort, wo offensichtliche Ghettoisierung der Armen betrieben wird (vgl. Obdachlosigkeit), mache die Untersuchung dieser notgedrungen recht geschlossenen Lebensformen anhand eines Subkulturenbegriffs Sinn, weil hier typische Merkmale deutlich immer wieder auftauchen. Insgesamt sei der Ansatz nicht mehr aktuell und in seiner Anwendbarkeit äußerst begrenzt.
"Die Debatte um die 'Subkultur der Armut' hat gezeigt, daß der Versuch zum Scheitern verurteilt ist, einzelne und isoliert begriffene kulturelle Momente als abstrakte Kausalfaktoren bei der Erklärung von dauerhaften Armutslagen zu bestimmen."
Als wichtiger Vertreter des Konzepts der relativen Deprivation sei Peter Townsend genannt. Er entwickelte in den 60er und 70er Jahren eine Forschungsmethode, die weltweit anerkannt und einsetzbar ist. Townsend versteht unter relativer Deprivation die Abwesenheit oder Unangemessenheit von Ernährungsweisen, Standards, Leistungen, Aktivitäten und Besitztümern, die in den untersuchten Gesellschaften als normal angesehen werden. Townsend behauptet einen engen Zusammenhang zwischen dem Level der individuell verfügbaren Ressourcen und der Benachteiligung. Er unterscheidet drei Formen der relativen Deprivation: (a) die streng objektive, wissenschaftlich feststellbare Benachteiligung, (b) die öffentlich wahrgenommene oder anerkannte Benachteiligung und (c) die subjektive Benachteiligung oder Benachteiligung von Kleingruppen (Minoritäten). Er unterscheidet weiter in die Dauer der Benachteiligung und in die Intensität oder Signifikanz.
Townsend bestimmt einen nationalen Lebensstil, der sich an der durchschnittlichen Verfügung über die Ressourcen "cash income", "capital assets", "value of employment benefits in kind", "value of public social services in kind" und "private income in kind" zusammensetzt. Townsend ging bei seinen Untersuchungen in Großbritannien davon aus,
"[...] daß das Einkommen-Ausgabenverhältnis Grenzen der Konsumtion und Lebensweise setzt, welche haushaltstypenspezifisch ab bestimmten Punkten der Einkommensskala zum Ausschluß von allgemein als üblich geltender Partizipation führen. Townsends Hypothese ist, daß in Abhängigkeit von der Einkommensskala, je nach Familientyp an bestimmten Punkten der Verteilungsskala eine signifikant hohe Zahl von Familien überproportional ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben reduzieren muß."
Die Armutsschwelle ergibt sich haushaltsgrößen- und typenspezifisch. Die gemessene Armut fällt für verschiedene Haushaltszusammensetzungen, Geschlechter und Altersklassen unterschiedlich aus. Townsend stellte neben einer hohen Armutsrate bei Alten und Kindern und einer niedrigen bei Personen im Erwerbsalter auch Unterschiede bei der Dauer des Lebens in relativer Benachteiligung fest. Während nach staatlichen Erhebungen nur rund 6% der Bevölkerung in einem Bemessungszeitraum in Armut lebten, kam Townsend nach seinem Deprivationsindex auf 22,9% (28% wenn alle Kurz- und Langzeitarmut addiert wird).
Das Recht auf Partizipation, welches so nach Townsend je nach Alter und Geschlecht für einen großen Teil der Bevölkerung nicht erfüllt würde, wirft aber auch Fragen auf. Kritiker werfen Townsend eine schichtorientierte Analyse des Problems unter Maßgaben der allgemeinen Verteilungsgerechtigkeit vor. Fraglich bleibt, wie das "verweigerte" Recht gemeint sein soll:
"- ist es bezogen auf einen vorübergehenden Verlust von etwas, was man besessen oder genossen hat?
- ist es der Mangel an etwas, auf das ein Anspruch besteht?
- oder gibt die Armutslinie die Grenze an, oberhalb derer sich jedermann in einer Gesellschaft befinden sollte?"
Ein zusätzliches Problem ist, daß die Deprivationsindikatoren z.T. räumlich und zeitlich gebunden sind, so daß der Übergang von quantitativem Mangel zu qualitativem Mangel ständig angepaßt werden muß. Die Maßgaben, nach denen sich die Auswahl und Anpassung vollzieht, müssen immer neu verteidigt werden. Zudem ist in Townsends Konzept die politische Deprivation nicht direkt einbindbar. Auch dadurch bleibt das qualitative Moment individueller Selbstbestimmung unberücksichtigt.
Das Konzept der Lebenslagen versucht Hierarchien in den Gesellschaftsstrukturen abzubauen und die Allgemeinbildung auszudehnen, um Ursachen der Armut zu beseitigen. Es versucht, eine optimale Wirtschaftsordnung zu etablieren, die individuelle Lebensziele bestmöglich fördert. Optimierung der Lebenslagen heißt, die Spielräume groß zu halten, die die Einzelnen brauchen, um ihre Interessen zu verfolgen. Unterschiede in Lebenslagen der Einzelnen untereinander sind nur insoweit gerechtfertigt, wie sie dem Ziel eines kulturellen Optimums zuarbeiten. Schichtspezifische Förderung der Interessen sollte mit Leistungsbereitschaft gekoppelt werden. Verdienstmöglichkeiten für mühevolle Arbeiten steht die öffentliche Unterstützung zur Maximierung der Lebenschancen gegenüber. Das Lebenslagenkonzept sieht es als entscheidend an, in welchem Verhältnis objektiv gegebene Handlungsspielräume mit subjektiv vorhandenen Interessenorientierungen stehen.
Allerdings ist dieses Konzept schwierig umzusetzen, da bereitgestellte Selbstverwirklichungsspielräume allein keine Garanten für gerechte Verteilung und Armutsfreiheit sind. Außerdem ist offen, auf welcher Datengrundlage ein solches Konzept eingesetzt werden könnte.
Als wichtigster Vertreter einer handlungstheoretischen Strategie sollte Amartya Kumar Sen genannt werden. Sein "capability approach" stellt eine eigenständige Forschungsweise dar, die, so Sen selbst, Ökonomie und Soziologie vereinen soll. Nach Leibfried und Voges handelt es sich um einen strukturell individualistischen Fähigkeitsansatz.
"Er geht davon aus, daß sich Armut nicht nur aus geringen Ressourcen, sondern eben auch aus der Unfähigkeit ergibt, diese funktional einzusetzen."
Sen möchte für Vorgehensweisen, die sich nur am Einkommen orientieren, eine Alternative bieten. Unangemessenheit bestimmter Ressourcen (auch Einkommen) sei entscheidender als die bloße Niedrigkeit. Die traditionelle Weise, Niedrigeinkommen zu messen sei, die Summe der Personen festzulegen, die sich unter einer strengen Grenze befinden ("head-count ratio"- H). Dabei bleibt unberücksichtigt, wie weit einzelne Personen unter der Grenze liegen, und ob sie sich mit ihrem Einkommen darunter bewegen oder nicht. Sen stellt zu diesem Verfahren ein weiteres vor, das den Einkommenszuwachs ermittelt, der nötig wäre, um Personen unterhalb einer Grenze über diese zu bringen. Am günstigsten sei es, mit Durchschnittswerten zu operieren ("the average shortfall I of income of the identified poor from the poverty line.")
Da H und I völlig unabhängige Maßstäbe sind, sei es sinnvoll, diese zusammenzuführen. Aber auch diese beiden Maßstäbe, so Sen, seien ungenügend, da sie Einkommensbewegungen innerhalb der Niedrigeinkommen nicht erfassen. Die Messung der Verteilung innerhalb der Menge unterhalb einer gesetzten Grenze (D) ist aus diesem Grund ebenfalls zu berücksichtigen. Die adäquate Armutsmessung (bezüglich Einkommensarmut) bestehe also in einer Funktion aus H, I und D. Laut Sen selbst ist dieses Verfahren zwar in bezug auf Einkommensarmut recht ausgefeilt. Als einzige und erfüllende Methode der Armutsmessung will er sie aber nicht zulassen, da Einkommen lediglich eines unter vielen Mitteln sei, Armut zu vermeiden. Wegen der individuell unterschiedlichen Sets an Fähigkeiten ist die reine Einkommensmessung immun gegen die Wirksamkeit von Einkommen hinsichtlich der Wohlfahrtsniveaus. Zunächst sollte eine qualitative Diagnose der verschiedenen Mangelerscheinungen vorgenommen werden. Um nicht jedes Individuum einzeln berücksichtigen zu müssen, schlägt Sen die Gruppierung häufig auftretender Mangelerscheinungen in Ethnien, Subkulturen, Klassen, Kasten, Regionen usw. vor. Erst dann sollte entschieden werden, welche Verteilung die Grundfähigkeiten zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Benachteiligten optimal stärkt. Sen behauptet damit, die aktive Seite der Betroffenen berücksichtigen (sie als handlungsfähige Personen sehen) zu können, im Gegensatz zu einer anonymen Verteilungsorganisation, die die Bedürftigen bloß als Zielobjekte (Patienten) in der Umverteilung sieht.
David Piachaud hat an Sens Vorstellung von Grundbedürfnissen und Grundfähigkeiten Zweifel angemeldet. Erstens sei nicht auszumachen, was die Menge der Grundbedürfnisse ausmachen sollte (Sen nennt u.a. Nahrung, soziale Partizipation, Freiheit, Obdach) und wer sie bestimmen solle. Zweitens sei auch Sens Konzept relativ, da Güter, die benötigt werden, um Sens (absolute) Grundbedürfnissse zu erfüllen, abhängig von der jeweiligen Gesellschaft seien. Piachaud unterstellt Sen die Annahme, die menschliche Natur sei konstant, was nicht haltbar sei.
Der Begriff der multiplen Deprivation will den Lebenslagenbegriff und die relative Deprivation gleichermaßen berücksichtigen und erweitern. Nach Dietz (1997) umfaßt dieser Begriff "schlichtweg alle Bereiche des menschlichen Lebens". Also interne und externe Aspekte subjektiver und objektiver bewertbarer Deprivation (einschließlich sozialer Isolation, interaktionistischer Momente, Freizeit etc.) Es werden ökonomische, ökologische, politische, soziale, kulturelle, psychische und physische Bedingungen betrachtet, um die ganzheitliche Lebensqualität ausmachen zu können. Untersuchungen zur multiplen Deprivation seien mit Beginn der 80er Jahre in der Bundesrepublik unternommen und seit dem weiter ausgebaut worden. Multiple Deprivation kann die unterschiedlichen Bereiche der Persönlichkeit, den Wirkungsbereich der sozialen Netze, Arbeit und Einkommen, Ausgaben (Konsum), gesellschaftliche Werthaltungen beinhalten (z.B. nach Tschümperlin). Neben Tschümperlin haben sich nach Dietz auch Walter Hanesch und Richard Hauser um die Weiterentwicklung dieses Armutskonzepts verdient gemacht.
Laut Dietz ist es gelungen, die Armutskonzepte immer weiter auszufeilen, um so einem möglichst umfassenden Bild der Armut nahe zu kommen. Was er bemängelt, ist, daß es trotz allem nicht gelungen sei, die Ursachen der komplexen Armutsdimensionen zu bestimmen. Genauso wenig, wie es bisher gelingen konnte, brauchbare Konzepte zur Wechselwirkung von Ursachen und Erscheinungsformen auszuarbeiten, was sich gerade in bezug auf die Armutsbekämpfung besonders nachteilig auswirkt. Ein umfassendes Armutskonzept hat ihm zufolge zwei Hauptpunkte zu berücksichtigen und zu unterscheiden zwischen:
"a) den Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmechanismen und damit der potentiellen Verfügbarkeit von Ressourcen, die zu einem menschenwürdigen Leben unabdingbar sind und
b) den tatsächlichen, situativen und tradierten Benachteiligungen in multiplen Lebenslagenbereichen unter Berücksichtigung der gegenseitigen Abhängigkeit untereinander und ihrer Ursachen, welche natürlich auch, aber nicht nur, ressourcenbezogen sind."
Die Verfolgung eines solchen Konzepts würde ein besonderes Augenmerk auf die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Benachteiligten legen. Dietz geht es ausdrücklich darum, Armutsgrenzen jeglicher Art durch ein Deprivationskonzept zu ersetzen, das individuelle oder gruppenspezifische Merkmale erfaßt und Probleme zu lösen hilft, ohne bestimmte Merkmale nach gehört zur Armutspopulation; gehört nicht zur Armutspopulation zu ordnen. Mängel der Partizipationsmöglichkeiten und der Umsetzung sozialer Rechte sollten insgesamt berücksichtigt werden. Ausgrenzungskonzepte sollten gegen Eingrenzungskonzepte bei Forschung und politischer Umsetzung ausgetauscht werden. Es müßte zudem gewährleistet sein, einem/er jeden die Teilhabe an gesellschaftlicher und individueller Produktion und Reproduktion zu ermöglichen. Sich selbst nicht als produktives Subjekt in persönlichen Bezügen und als Produzent in gesellschaftlichen Bezügen sehen zu können, sei ein Hauptproblem der von Armut Betroffenen, so daß sie sich selbst und der Gesellschaft mehr und mehr zu Objekten werden. Dietz steht außerdem der Überzeugung, ein insgesamt akzeptables und umfassendes objektives Armutskonzept entwickeln zu können, skeptisch gegenüber. Armut lasse sich nicht vollständig objektivieren und operationalisieren. Es bestehe die Gefahr, mit unterschiedlichen Konzepten die Armut nur sozialpolitisch verschieden zu verwalten, nicht aber ihre Ursachen zu beseitigen. Das Problem sei, daß es generell noch nicht gelingen konnte, einen wirklich überzeugenden Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Bestimmungsmethoden zu entwickeln.
Nach Hauser und Neumann (1992) wisse man immer noch zu wenig über das Zusammenwirken von Risikofaktoren, über die Kumulation von Deprivationserscheinungen, über das Ausmaß und die Struktur langfristiger Armut und über die Faktoren, die letztlich das Überwinden der Armut ermöglichen.
Einer der Ausgangsthesen dieses Teils zufolge ist nicht nur die Armutsforschung komplexer geworden und bietet unterschiedliche Bilder der Armut an, sondern die Armut, wie sie uns heute gegenübertreten kann, oder von uns erfahren werden kann, ist eine andere, eine neue Armut geworden. Ihre genaue Beschreibung bleibt dennoch weitgehend offen, ja selbst über ihr Ausmaß ist bisher nur beschränkt Einigung feststellbar. Die Daten, auf die zum Großteil zurückgegriffen werden müssen, werden von fast allen ForscherInnen als noch unzureichend beurteilt. Leibfried und Voges (1992) sprechen gar von einem "hilflosen Kampf mit Zahlen".
"Diese [die Datenlage] zwingt, konzeptionelle Fortschritte zu ignorieren und weit hinter sich zu lassen, um wenigstens bestimmte Aspekte von Armut in Zahlen packen zu können. Fortlaufende offizielle Datenerhebungen sind vorwiegend nur in bezug auf Einkommensverteilung und entwicklungen, der Verbreitung bestimmter Güter und der Inanspruchnahme von staatlichen Hilfen zu erkennen."
Die wohl aussagekräftigsten und umfassendsten Daten liefern Erhebungsverfahren auf Umfragebasis wie das "Sozio-ökonomische Panel" (SOEP). Aber selbst dieses Verfahren hat eine begrenzte Reichweite und wird immer dort, wo systemkritische Ergebnisse nicht gefragt sind, nicht im vollen Umfang genutzt. Obwohl Messung von Einkommensarmut (oder gar sozialstaatlich erfaßter Einkommensarmut) nur ein beschränktes Bild des Armutszustands liefern kann, sind Erhebungen und Vergleiche meist notgedrungen darauf beschränkt.
Festhalten läßt sich, daß von Armut vorwiegend Kinder, Familien mit vielen Kindern, Alte und Arbeitslose unterschiedlich lang betroffen sind. Bezüglich der Einkommensarmutsstatistik läßt sich festhalten, daß allein im Bereich "Arm durch Arbeitslosigkeit" die Anlehnung an die BezieherInnen von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nicht ausreichend ist. Mangelndes Erwerbseinkommen (oder Unterversorgung im Bereich Arbeit) umfaßt auch die BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld sowie geringfügig Beschäftigte, Kurzarbeitende etc., die i.d.R. mindestens nach der 60% NEK Grenze zu den von Armut Betroffenen zählen.
Dietz spricht von einem "strukturell geförderten Armutsrisiko" bei Minderqualifizierten und AusländerInnen. Da diese besonders leicht aus dem Arbeitsmarkt geworfen werden und dort schlecht wieder Fuß fassen können, rutschten sie bei mangelhafter Eingliederungshilfe in die Dauerarbeitslosigkeit und in den Sozialhilfebezug. Die institutionelle Regulierung der Armut, die offiziell unter sozialer Sicherung und Armutsvermeidung präsentiert werde, bestehe in einem Wechselspiel von Armutsproduktion, -verschleierung und bekämpfung.
Hauser und Neumann folgend lag die verdeckte Armut in Deutschland in den 80er Jahren nach Schätzungen zwischen 5 und 7% der Gesamtbevölkerung. Bei einem Mix aus SOEP und EVS Daten läßt sich die Einkommensarmut (50%) insgesamt für den selben Zeitraum auf 8 12% festlegen. Untersuchungen der multiplen Deprivation hätten ergeben, daß unter den NiedrigeinkommensbezieherInnen ein Großteil überproportional in mehreren Bereichen unterversorgt ist, während bei der übrigen Bevölkerung nur ein geringer Teil in ein bis zwei Bereichen unterversorgt ist.
Andere Analysen haben gezeigt, daß zwei dominierende Annahmen aus den 70er und 80er Jahren sich nicht halten konnten: erstens, die Armut sei weiblich und zweitens besonders Alte seien von Armut betroffen. Ergebnisse aus den späten 80ern und den frühen 90ern zeigen, daß Armut zwischen Mann und Frau etwa gleich verteilt ist, und Alte seit Ende der 70er einen nicht mehr so großen Anteil an den Armen stellen, während immer mehr Kinder und Jugendliche in die Armut rutschen. Zugleich hat sich die These der verfestigten Einkommensarmut nicht bestätigt. Besonders zwischen den mittleren und unteren Einkommensschichten konnte seit den 80er Jahren eine hohe Mobilität festgestellt werden.
Während der Sozialhilfebezug insgesamt seit den 60ern dramatisch zugenommen hat (Verdreifachung in 25 Jahren), geht die Dauer des individuellen Bezugs zurück. Als mittlere Verweildauer gelten rund 18 Monate, wobei ein Großteil der BezieherInnen die Sozialhilfe nur einige Monate in Anspruch nimmt. Vergleichbare Ergebnisse liefert auch die Bremer 10% Stichprobe von Sozialhilfeakten. Leibfried, Leisering u.a. halten fest, daß nur 8% der untersuchten Personen mehr als fünf Jahre Sozialhilfe bezogen, während 57% im Zeitraum von 1984 1992 nur ein bis zwei Jahre arm waren. Als Hauptursache für den Bezug stellen sie noch immer Arbeitslosigkeit fest, allerdings sei gerade der Durchschnittsbezug bei Arbeitslosigkeit besonders kurz (8 Monate). Auffällig lang ist er bei Krankheit (47 Monate). Nur gebe die Sozialhilfeuntersuchung keinen Aufschluß über die Dauer der Armut, da sie lediglich die Dauer des Sozialhilfebezugs feststellen könne. Die 'ÜberbrückerInnen' sind gegenüber den 'LangzeitbezieherInnen' dominant geworden.
Nach Zwick geht es gegenüber den früheren Klassenkonzepten sozialer Ungleichheit nun vielmehr darum, die Episodenhaftigkeit von Mangellagen genau zu bestimmen und zu untersuchen. Er macht einen "prozeßhaften Charakter sozialer Ungleichheit" aus.
"Es ist keineswegs 'alles in Butter', allerdings sind die Problemlagen wesentlich anders gelagert, oftmals ambivalent und jedenfalls erheblich komplizierter als bisher angenommen."
Peter A. Berger macht mit seinem an Beck angelehnten Ansatz eine starke Individualisierung der Armut aus. Dort, wo es kaum noch materielle Knappheit i.e.S. gebe, sei Armut von individueller Wahlunfreiheit gekennzeichnet. Sei es der Zwang, einen unbeliebten Job wegen des Einkommens behalten zu müssen oder aus einer unbefriedigenden Ehe nicht aussteigen zu können, sei es die Furcht vor Unsicherheit und die Angst, den gesellschaftlichen Anschluß zu verlieren. Realer Optionsmangel schränkt viele Menschen ein oder grenzt sie aus. Weder sei 'Wohlstand für alle' erreicht worden, noch könne Armut länger als Kollektivphänomen beschrieben werden. Armut trete zunehmend als Einzelschicksal auf und werde auch so empfunden. Es zeichne sich insgesamt eine Spaltung der Gesellschaft in einen Teil ab, der nie von Armut betroffen sei (der immer über der 50% oder 60% Armutsgrenze bleibt) - ca. 75%; einen Teil, der lange und/oder öfter von Armut betroffen sei - ca. 10%; und einen Teil, der kurz und/oder selten unter die Armutsgrenze rutscht - ca. 15% der Bevölkerung. Auffällig bleibt aber trotz des sich durchsetzenden Kurzzeitbezugs, daß sich in den ausgehenden 80er Jahren und den frühen 90er Jahren bereits etwa 25% aller Deutschen mindestens einmal in einem Zeitraum von einigen Jahren in Einkommensarmut befanden (SOEP Erhebungen).
Was bei häufigem, kurzfristigem Sozialhilfebezug oder Abgleiten unter die Armutsgrenze auch noch zu berücksichtigen sei, so Berger, sei die Gefahr, daß bei Niedrigeinkommen die Fähigkeit zur dauerhaften Erwirtschaftung eines angemessenen Lebenseinkommens dramatisch sinke, was sich besonders auf die Altersversorgung auswirke.
Im Vergleich von hohen und niedrigen Einkommen stellt Ernst-Ulrich Huster fest, daß der Steigerung der Niedrigeinkommen unter der Bevölkerung offensichtlich auch eine Steigerung der hohen Einkommen gegenübersteht. Nach EVS Daten verfügten 1993 1,7 Mio. Haushalte über ein Nettomonatseinkommen von mehr als 10000 DM. Die Zahl der Superreichen sei von 1986 bis 1989 um 35% gewachsen. Bei den Vermögen sei zu beobachten, daß die untere Hälfte der Haushalte nach Einkommen nur über 2,5% (1983) des Gesamtvermögens verfügten, während die 10% reichsten Haushalte fast die Hälfte des Gesamtvermögens ihr Eigentum nennen konnten.
Resümee zu Teil A
Dieser Teil sollte ein möglichst umfangreiches Bild über das Phänomen Armut liefern, historische und/oder systematische Ursachen aufdecken sowie über konstruktive Lösungsansätze informieren.
So umfangreich wie das Phänomen Armut ist, so umfangreich und vielfältig ist auch das Bild der Armut, welches hier geliefert wurde. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein muß auf schriftliche Überlieferungen aus Geschichtsschreibung und Religion zurückgegriffen werden, um ein Bild der Entwicklung des Problems zu liefern. Hinzu kommen ethnologische und anthropologische Untersuchungen, die eher als Nebenprodukt Erkenntnisse über frühe Formen der Armut und über den Umgang mit Armut bieten. Was die Entwicklung der Armut in Mitteleuropa bis in die heutige Zeit angeht, ist festzustellen, daß es zwar geringe Ähnlichkeiten (Ausgrenzung, allgemeiner Ressourcenmangel) zwischen frühen und modernen Ursachen der Armut gibt. Allerdings ist kein strenger Kausalzusammenhang in der geschichtlichen Entwicklung der Armut zu sehen.
Eine spannende Frage bleibt, inwieweit im Zuge der industriellen Revolution die Grundlagen für alle neueren Formen gesellschaftlich bedingter Armut geschaffen wurden. Die für die Entfaltung der Produktivkräfte notwendige Kapitalakkumulation in den Händen weniger und die damit verbundene Enteignung und das in Abhängigkeit von Lohnarbeit Drängen breiter Bevölkerungsschichten hat die Arbeitskraft zum bestimmenden Faktor der individuellen Existenzsicherung und der gesellschaftlichen (Re)Produktionsfähigkeit gemacht. Auch wenn die Ausbeutung der Arbeitskraft in der zweiten Phase der Industrialisierung nicht mehr so deutlich und massiv ist (Arbeit wird weit besser belohnt und an sozialstaatliche Sicherungsmaßnahmen geknüpft), und wenn auch die bloße menschliche Arbeitskraft in der Masse heute nicht mehr so benötigt wird, wie das in der Frühphase der Industrialisierung der Fall war, ist doch Lohnarbeit noch immer ausschlaggebend für das Maß an Freiheit und Wohlstand, welches Individuen genießen. Wo nicht gearbeitet wird oder nicht lange genug gearbeitet wurde, macht sich Mangel, Ausgrenzung, Stigmatisierung und mangelnde Anerkennung breit.
Unzureichend bleiben aber Antworten, die sich ausschließlich auf Klassentheorien zur Beschreibung moderner Ungleichheitsformen zurückziehen wollen und allein in Mängeln von Konkurrenzmärkten die Ursachen für neue Armut erkennen wollen.
Offensichtlich sind nicht nur die Ursachen und Erscheinungsformen der Armut vielfältiger geworden, auch die Methoden, sie zu verstehen und zu bekämpfen, sind umfangreicher. Nach eigenen Angaben der Armutsforschung ist allerdings noch kein geschlossenes Bild entstanden. Auch über die genauen Ursachen weiß man zu wenig. Das Sozialstaatsprinzip hat sich in gewisser Hinsicht verdient gemacht. Immer mehr BürgerInnen haben im Alter ein ausreichendes Einkommen über ihre Rente. Das Völksvermögen steigt zunehmend, immer öfter wird das individuelle Vermögen im Laufe des Lebens nicht mehr verbraucht, so daß große Erbschaften ein immer höheres Ausmaß annehmen. Die Löhne und Gehälter für qualifizierte Berufe sind zwar in den letzten Jahren kaum noch gestiegen, aber seit Jahrzehnten auf einem ausgesprochen hohen Niveau. Wer davon nicht profitiert, sind die Menschen, die an diesem System nicht teilhaben können oder wollen, die bei Defekten in der Funktionsweise zuerst betroffen sind oder auf deren Biographie das Standardsozialstaatmodell nicht paßt. Mit geringem Bildungsniveau unqualifizierter Arbeit nachzugehen, bedeutet Niedrigeinkommen, ein besonders hohes Arbeitslosigkeitsrisiko und geringe Leistungsbezüge aus den Versicherungskassen. Die Altersarmut ist gesunken, weil die Renten durch die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes in den 50er bis 80er Jahren gestiegen sind.
Die Kinderarmut und die Armut großer Familien jedoch ist gestiegen, weil so die hier vertretene These die Leistungen aus Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Krankengeld etc. nicht mehr ausreichen, um eine durchschnittliche Familie mit zwei oder mehr Kindern über die Armutsgrenze zu heben. Da auch die Entlohnung für viele Arbeiten nicht mehr ausreichend ist, um bei einer Ernährerin und einem Arbeitslosen das Haushaltseinkommen über die Armutsgrenze zu bringen, befinden sich viele Menschen trotz kurzzeitigem (oder ganz ohne) Sozialhilfebezug offenbar auch längerfristig in Armut. Das derzeitige System bietet aus dieser Falle keinen Ausweg.
Zwar scheinen die Armutsphasen kürzer geworden zu sein, dafür befindet sich offenbar ein großer Bevölkerungsanteil (15 30%) auf einer ständigen Gratwanderung zwischen ausreichendem Lebensstandard und Niedrigeinkommen. Mindestens ein Zehntel befindet sich häufig in Einkommensarmut. Niedrigeinkommen ist noch immer einer der Hauptfaktoren für hohes Armutsrisiko, so daß die Absicherung gegen moderne Ausprägungen der Armut zwar nicht allein durch Mindesteinkommen geschehen kann, trotzdem bietet die Ausstattung mit finanziellen Mitteln einen Kern der Armutsvermeidung. Erkenntnisse über die "neue Armut" bergen die Gefahr, Armut nicht mehr als chronisches, diskriminierendes Problem anzusehen. Zudem werden die konstruktiven Lösungen immer aufwendiger, je stärker sich das Problem individualisiert und verzweigt. Sollte deshalb eine allgemeine Grundsicherung eingeführt werden, die gegenüber den Sozialversicherungen ein größeres Gewicht bekommt und alle früher ungefährdeten Lebensbereiche mit abdeckt, oder sollte durch zielgenaue Zusatzleistungen, die neue Risiken mit berücksichtigen, ergänzt und umgebaut werden? Wie ist die Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen? Sollten die Benachteiligten nur mit Mitteln ausgestattet werden, mit denen sie (wenn sie die Fähigkeit besitzen) ihre individuelle Vorstellung des guten Lebens verfolgen können, oder sollten sie aktiv in die Gesellschaft integriert werden etwa in den Arbeitsmarkt? Dann müßten Mindestlöhne garantiert werden, die über den standardisierten Armutsgrenzen liegen. Zugleich muß geklärt sein, ob der Arbeitsmarkt alle Arbeitsfähigen zu diesen Konditionen aufnehmen könnte.
B: Grundsicherungssysteme zur Bekämpfung von Einkommensarmut
C: Gerechtigkeit und soziale Grundsicherung
D: Vorschlag für ein gerechtes Reformmodell zur Vermeidung von Einkommensarmut