Gegen wessen Kriege welchen
Widerstand?
Thesen für einen neuen Anti-Militarismus
Während elf Wochen nach dem 24. März 1999 bombardierte die NATO unter
Mitwirkung der Bundeswehr in einem unerklärten Krieg die Bundesrepublik
Jugoslawien. Gegen diesen Krieg formierte sich in keinem der beteiligten
Angreiferländer eine nennenswerte Anti-Kriegsbewegung. Der folgende Text
versucht thesenhaft, die Ursachen hierfür zu analysieren und mögliche
Handlungsoptionen in zukünftigen, ähnlich gelagerten Auseinandersetzungen
zu diskutieren. Denn, so lautet eine Kernthese der nachfolgenden
Überlegungen, der Kosovo-Krieg war neben und nach dem zweiten Golfkrieg
1990/91 Prototyp einer neuen Art von Konflikten, die zugleich symbolischer
und materieller Ausdruck der neuen Weltverhältnisse sind.
Die Schwäche der Antikriegsbewegung in diesem Konflikt manifestierte
sich auf allen Ebenen. Auf diskursiver Ebene gelang es nicht, den
Argumenten der Kriegsbefürworter eine logisch geschlossene, geschweige
denn eine in deröffentlichen Diskussion wirkmächtige Argumentation
entgegenzusetzen. Auf politisch-praktischer Ebene gelang es nicht,
angemessene Formen des symbolischen oder auch praktischen Widerstands zu
finden, so daß nicht einmal innerhalb der - ohnehin nicht starken - linken
Oppositionsbewegungen wirksam gegen den Krieg mobilisiert werden konnte.
Um die Gründe hierfür zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick
auf das diskursive Szenarium um den Krieg zu werfen. Im folgenden beziehen
wir uns vor allem auf die deutsche Situation; es hat aber für uns den
Anschein, daß sich die Verhältnisse in zahlreichen anderen
Angreiferländern kaum unterschieden haben.
Zwei Seiten der Okzidentalen Ideologie: Mehrheitsgesellschaft und
Bellizisten
Die Wahrnehmung des Kosovo-Kriegs in der Gesellschaft war durch einen
verbreiteten kulturalistischen (differentialistischen) Rassismus
strukturiert, der sich - in Anlehnung an Edward W. Saids Begriff des
"Orientalismus" - mit dem Begriff des Balkanismus bezeichnen läßt. Im Diskurs
des Balkanismus wird der Südosten Europas zu einem geographischen und
symbolischen Raum, in den der 'freie Westen. oder das 'zivilisierte Mitteleuropa'
Gewalt und Barbarei verorten. Hierbei wird an
kollektive Bilder einer vor-zivilisierten Welt der Stammeskrieger in den
"Schluchten des Balkans" angeknüpft. Diese Welt steht im grundsätzlichen
Gegensatz zur westlichen, bürgerlichen Zivilgesellschaft. Völkermord und
Barbarei werden über die Bilder des Balkans als etwas dem freien Westen
Äußerliches symbolisch ausgelagert. Ethnische Konflikte, so der Diskurs
des Balkanismus, sind auf dem Balkan Normalität, nach ihren Ursachen
braucht nicht gefragt zu werden. In der Konsequenz ergibt sich aus der
Logik des Balkanismus vor dem Hintergrund der Kosovokrise die
Handlungsalternative: Entweder (polizeilich) eingreifen oder den Balkan
sich selbst überlassen.
Die 'schweigende Mehrheit' in der Bundesrepublik neigte wohl der zweiten Antwort
zu. Die Auseinandersetzung in Ex-Jugoslawien wurde häufig als ein
Konflikt zwischen Halbwilden interpretiert, der 'uns', die
zivilisierten Mitteleuropäer, nichts angeht. Die Konsequenz daraus hieß:
Einen Zaun außen herum ziehen und fertig! Dementsprechend war nach
Kriegsbeginn die Haltung eines großen Teils der Bundesdeutschen weniger
durch begeisterte Zustimmung zu den Bombardements denn durch dumpfe
Ablehnung und Indifferenz gekennzeichnet.
Auch die Kriegsbefürworter argumentierten vor dem Hintergrund einer
stillschweigend vorausgesetzten Überlegenheit des zivilisierten freien
Westens, zogen daraus allerdings die entgegengesetzte Konsequenz. Es ist
bezeichnend, daß ihre Argumentation über weite Strecken als Aktualisierung
einer Okzidentalen Ideologie erscheint, die bereits im Zweiten Golfkrieg
als Legitimationsgrundlage für das militärische Eingreifen diente: "Die
okzidentale Ideologie ist jene während des Golfkrieges am Beispiel des
Islamismus durchdeklinierte rassistische Überlegenheitsdoktrin gegenüber
nichtwestlichen Kulturen und Lebensweisen, die einerseits dazu dient, die
herrschendenVerhältnisse im Weltmaßstab wie sie sind zu legitimieren, und
andererseits deren einstmals linken Kritikern den theoretisch
abgesicherten Ausstieg aus ihrer eigenen Geschichte zu ermöglichen."
(Schönberger/Köstler 1992, 38ff.) Kernfiguren der Argumentation sind die
Dämonisierung des jeweiligen Kriegsgegners und seines Führungspersonals
sowie die gleichzeitige Verherrlichung des zivilisierten Westens.
Gegen Indifferenz und Wurstigkeit der Mehrheitsgesellschaft setzten die Kriegsbefürworter einen
stark moralisierenden Diskurs. Vor dem Hintergund der serbischen
Politik im Kosovo wurde von Völkermord gesprochen; die NATO-Bombardements wurden
mit dem Argument legitimiert, es gelte, ein neues Auschwitz
zu verhindern. Die militärische Intervention wurde so als "Kampf gegen
das absolut Böse" (vgl. auch Tony Blair in Großbritannien) inszeniert. Wie
zuvor im Falle Saddam Husseins und des Irak während des Golfkriegs wurde
nun das politische und militärische Handeln von Milosevic und der
Bundesrepublik Jugoslawien mit den Nazi-Verbrechen verglichen. Der politische Imperativ
"Nie wieder Auschwitz" wurde auf die Bürgerkriegssituation umgemünzt.
Dabei ging es weniger darum, . die Deutschen.
durch Relativierung von Auschwitz von ihrer historischen Schuld zu
entlasten (was möglicherweise ein gern gesehener Nebeneffekt sein mag), als
vielmehr darum, die Diskussion des Konflikts von der politischen auf eine
moralische Ebene zu verlagern: Die Anrufung der Verbrechen von Auschwitz
ließ es offenkundig illegitim erscheinen, über politische Interessen,
Motive und Handlungsalternativen in diesem Konflikt zu diskutieren.
Die moralisierende Entpolitisierung mündete letztlich in der Propagandafloskel,
wer Milosevic nicht militärisch bekämpfe, sprich Jugoslawien
nicht bombardiere, paktiere realiter mit ihm und beteilige sich
letztlich durch Wegschauen an einem Genozid. Es ist bezeichnend, daß das
Führungspersonal der Berliner Republik einerseits eine neue deutsche Normalität
beschwört, die nicht mehr an die Verbrechen des Nazi-Faschismus erinnert
werden will. Andererseits zögerten sie nicht, Auschwitz als 'Moralkeule'
(und nur in diesem Zusammenhang macht ein solcher Begriff
Sinn) gegen möglichen moralisch argumentierenden Widerspruch zu
schwingen.
Zumindest in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Staaten,
gelang die Durchsetzung dieses Diskurses nicht zuletzt, weil das politische
Führungspersonal nicht mehr im Verdacht steht, nazistische (bzw.
andernorts kolonialistisch-imperialistische) historische Kontinuitäten
zu verkörpern. Darüber hinaus konnten Schröder und Fischer (ebenso
wie Blair, Solana, Clinton und Co.) eine Art '68er-Bonus'
verwerten, der immer noch für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte
steht. Glaubhafter als jede konservative, CDU-geführte Regierung waren sie
in der Lage, die Behauptung zu verkörpern, in diesem Krieg gehe es um
Menschenrechte (vgl z.B. jene BILD-Zeitungstitelseite: "Schaut in ihre
Gesichter"). Ihr "humanitärer Fanatismus" (Franco "Bifo" Berardi)
verknüpfte die mörderische Gewalt der Stealth-Bomber mit der Inszenierung
von Zweifeln und Gewissensbissen und verkaufte das Ganze als
ethisches Handeln. (1) Gegen diesen "Kriegshumanismus" (Dirk Kretschmer) der gewendeten
68er bekamen die linken und antimilitaristischen
KriegsgegnerInnen keinen Fuß auf den Boden. Das haben sie sich bis zu
einem gewissen Grad selbst zuzuschreiben. Letztlich ergibt sich die
Möglichkeit, Auschwitz im Sinne eines "militärischen Humanismus" (Ulrich
Beck) zu instrumentalisieren, auch aus der schlechten linken Tradition,
alles und jedes mit dem Faschismusetikett zu überziehen (vgl.
Schönberger/Köstler 1992, 95ff.). Insofern zeigten die Ex-68er nur, daß
sie ihre Lektion gut gelernt haben. Sie nahmen die linke Tradition der
unaufhörlichen Moralisierung politischer Konflikte mit auf
dieRegierungsbank und spielten auf dieser Klaviatur mit einer Lautstärke,
angesichts der selbst der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble noch als
Gemäßigter erschien. Die Retorsion des moralischen
Imperativs"Nie-wieder-Auschwitz", also die Vereinnahmung eines kritischen
Begriffs und das gleichzeitige In-Sein-Gegenteil-Verkehren (vgl. z.B.
"Solidarpakt") entspricht einem gängigem Muster gegenwärtiger
Herrschaftsdiskurse. In diesem speziellen Fall braucht sich eine Linke,
die jahrzehntelang mit falschen oder verkürzten Faschismusvorwürfen
Politik (ge)macht (hat), allerdings nicht zu wundern, daß andere mit
solchen Argumenten nun ihr eigenes Spiel spielen.
Es ist klar, daß die Instrumentalisierung von Auschwitz durch die
Kriegstreiber eine Verharmlosung der Verbrechen des Nazi-Faschismus
darstellt (vgl. ZAK Tübingen). Opfer des Nazi-Faschismus haben die Parallelisierung
'Kosovo=Auschwitz' als eine "neue Art der Auschwitz-Lüge"
bezeichnet (Bejarano u.a.: Offener Brief an die Minister Fischer und
Scharping). Es ist legitim, wenn die Opfer angesichts der von den
Kriegsbefürwortern betriebenen Enteignung ihrerGeschichte die
Unvergleichbarkeit von Auschwitz einfordern. Als zentrales politisches
Argument einer Anti-Kriegsbewegung allerdings ist der Hinweis auf die
Verlogenheit des Auschwitz-Vergleichs wenig hilfreich. Angesichts der
Tatsache, daß vor Auschwitz jedes andere Verbrechen verblaßt, kann dieser
Hinweis zu der fatalen Lesart führen, daß aktuelle Verbrechen als harmlos
erscheinen. In der Sprache des Balkanismus gesprochen: Wozu die ganze
Aufregung, wenn sich doch bloß auf dem Balkan wieder einmal die Halbwilden
gegenseitig massakrieren? Eine Debatte, die den Auschwitzvergleich
kritisiert, ohne dieses Problem mitzudenken, läuft Gefahr, diejenigen zu
verhöhnen, die in der Gegenwart Opfer einer ethnifizierenden Politik
werden, gleichgültig ob Milosevic & Co. oder jetzt die UCK ihre
Urheber sind.
Ruhe an der Heimatfront
Bei der Suche nach Ursachen für die Schwäche der Antikriegsbewegung
liegt es nahe, auf ein Erklärungsmuster zurückzugreifen, das zum
Standardrepertoire linker Denkfiguren gehört: die Öffentlichkeit wurde
durch die bürgerlichen Medien manipuliert, Hauptgrund für die Schwäche der
KriegsgegnerInnen sei mithin dieEffizienz der Propaganda der Kriegstreiber
gewesen. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Medienbilder des Krieges nicht
allein Produkte der NATO-Propagandamaschinerie waren: Die
Berichterstattung war nicht gleichgeschaltet. In der Konsequenz ließ sich
die Fiktion eines klinisch sauberen Krieges seitens der NATO nicht
aufrechterhalten. Es standen genügend Medieninformationen zurVerfügung,
aus denen sich die Schlußfolgerung ziehen ließ, daß die Strategie der NATO
in diesem Konflikt auf ein "bewußtes und delibertäres Mürbe-Bomben der
serbischen Bevölkerung" (Bussemer) hinauslief. Daß diese Informationen
folgenlos bleiben, liegt zum einen daran, daß der durch die
bellizistischen Politiker vorgegebene Interpretationsrahmen des Konfliktes
in den Medien weitgehend unhinterfragt übernommen wurde. Die
Medienöffentlichkeit zweifelte zwar den Wahrheitsgehalt der täglichen
NATO-Frontreports an, nicht aber die grundsätzliche Interpretation des
Konflikts als "Kampf für die Menschenrechte". Daß diese Interpretation
unhinterfragt durchgehen konnte, mag zum Teil auch daran liegen, daß
alternative Lesarten des Konflikts durch die linke Antikriegsbewegung
selbst unzureichend waren. Deshalb greift die Behauptung einer
weitgehenden Medienmanipulation zu kurz: Die Lage an der Heimatfront war
weniger durch die Stärke der Kriegspropaganda gekennnzeichnet als durch
das Fehlen jeder überzeugenden Gegenargumentation. Die Verunsicherung
hinsichtlich der Legitimität des Krieges, welche in Teilen der Bevölkerung
durchaus bestand, mußte deshalb sprachlos bleiben. (2)
Ein weiteres, grundsätzliches Problem lag in der oben skizzierten
Indifferenz des Durchschnittsbürgers, der sich über ein paar Bomben mehr
oder weniger auf Serbien, Albanien oder Bulgarien nicht groß aufregt und
allenfalls beunruhigt ist, wenn diese Bomben aus Versehen im Gardasee oder
in der Adria landen. (3) Zwar gab es in der Bevölkerung keine
Kriegsbegeisterung und keinerlei Bedürfnis, etwa großdeutsches
Hegemonialstreben in glorreichen Kriegseinsätzen durchzusetzen. Die
Handlungsmöglichkeiten für eine antimilitaristische Bewegung vergrößerten
sich dadurch jedoch nicht im geringsten. Im Gegenteil: Hier zeigt sich
eine Form von Indifferenz, die weder von Kriegsbefürwortern noch von
Kriegsgegnern mobilisiert werden kann. (4) Konflikte wie der im Kosovo erscheinen als
undurchschaubar, die Leute wollen wohlstandschauvinistisch ihre Ruhe
haben. Es ist ihnen schlicht gleichgültig, ob sich nun 'Neger' oder
'Albaner' irgendwo vor den Toren der Festung Europa gegenseitig
massakrieren. Allenfalls gegenüber Opfern von Naturkatastrophen oder
bedürftigen Flüchtlingen lassen sie sich zu einer symbolischen Geste der
Mildtätigkeit hinreißen. Gegenüber dieser Haltung greifen weder moralische
Appelle noch das sonstige vorhandene symbolisch-politische Instrumentarium
der Linken. Es ist eine Frage, die seitens der linken Kriegsgegner kaum je
diskutiert wurde, wie mit dieser Heimatfront neuer Art umzugehen
ist.
Vom Elend der kritischen Kritik
Angesichts des Krieges bezogen die linken Kriegsgegner, soweit sie
nicht in ratlosem Schweigen verharrten, häufig in reflexhafter Weise die
üblichen Schützengräben.
Dazu gehört der Versuch, die Verhältnisse unbedingt und in jedem Fall
mit der (anti)deutschen Brille betrachten zu wollen. Diese negative
Deutschlandfixierung nimmt nicht einmal die einfache Tatsache zur
Kenntnis, daß sich die Situation weder in Großbritannien noch in den
meisten anderen europäischen Ländern wesentlich anders dargestellt hat.
Gerade weil von Antideutschen immer wieder vorgetragen wird, die deutsche
Balkanpolitik sei für die Auflösung Jugoslawiens ursächlich gewesen, läßt
sich fragen, ob hier nicht deutscher Größenwahn nur mit umgekehrtem
Vorzeichen präsentiert wird. (5) Slavoj Zizek (Die NATO - die linke Hand
Gottes?) und Immanuel Wallerstein ("Bombs away!") verweisen
demgegenüber darauf, wie problematisch es ist, Milosevic zum Protagonisten
des multiethnischen Jugoslawien zu stilisieren. Gerade seine schon 1987
einsetzende Entfesselung des "Gespensts ethnischer Leidenschaften"
(Slavoj Zizek: Die doppelte Erpressung) sei es gewesen, die das Ende
des multiethnischen Nachkriegsjugoslawien eingeläutet habe. (6)
Auch Kriegsgegner, die aus der Logik eines traditionellen
Anti-Imperialismus argumentierten, reproduzierten in letztlich hilfloser
Weise gewohnte, aber unzureichend gewordene Erklärungsmuster. Sie
versuchten verzweifelt klarzumachen, daß die Bombardierung Jugoslawiens in
Wirklichkeit um ökonomischer oder geostrategischer Interessen willen
erfolgte. (7) War eine entsprechende Argumentation im Falle des Golfkriegs (wo sie
unter der Parole "Kein Blut für Öl" vorgetragen wurde) noch einigermaßen
plausibel, wurde es im Falledes Krieges gegen Jugoslawien schwierig,
die 'wirklichen' ökonomischen Interessen hinter dem
Kriegseinsatz auszumachen. Wir gehen davon aus, daß das weniger an einer
besonders perfiden Verschleierung der wahren Kriegsgründe liegt sondern
eher daran, daß die Folie einer traditionellen Imperialismuskritik auf die
Konstellation dieses Krieges nicht paßt (vgl. auch Alain Kessi:
NATO/Kosov@). Die Demaskierungs-Strategie mit dem Versuch, die
'eigentlichen' Kriegsgründe aufzudecken, erwies sich in dieser Situation
als politisch wirkungslos. Es konnte ihr nicht gelingen, die Moralisierung
der Politik durch die Kriegstreiber zu diskreditieren.
Postfordistische Kriege - Auseinandersetzungen neuen Typs?
Von verschiedener Seite wurde versucht, dem spezifischen Charakter des
Krieges Rechnung zu tragen und diesen als Auseinandersetzung neuen Typs
ohne Rückgriff auf verkürzte traditionelle Erklärungsstereotype zu
untersuchen. Zu nennen sind hier insbesondere die Analysen von Robert Kurz
(Ökonomie der Ausgrenzung) sowie die Überlegungen italienischer postoperaistischer
Theoretiker wie Marco Revelli, Franco 'Bifo' Berardi,
Toni Negri u.a. (Thomas Atzert: Das Imperium schlägt alle). Die Analysen
unterscheiden sich weniger in der Substanz als im sprachlichen Gestus.
Der 'Krisentheoretiker' Kurz beschwört apokalyptische Bilder: Der
Konflikt erscheint ihm als Ausdruck aufbrechender weltgesellschaftlicher
Widersprüche, die sich angesichts eines scheinbar alternativlosen
Weltkapitalismus, in dem es derzeit nichts gibt, "was auch nur entfernt
als Kampf um gesellschaftliche Emanzipation interpretiert werden könnte",
in Ethnisierung, politischem Gangsterwesen und Barbarei artikulierten. Der
Todeskampf zusammenbrechender, von den Kriterien des Weltmarkts ruinierter
Gesellschaften beruhe auf der Auswegslosigkeit einer ökonomisch
substanzlos gewordenen Konkurrenz, in der der selbstzerstörerisch
wiederbelebte völkische Wahn nur noch auf der Binnenrationalität der
Krisenkonkurrenz beruhe. Ethnokriege, Bandenherrschaft und Klientelsystem
seien die destruktiven Phänomene und Folgen des nicht mehr
reproduktionsfähigen Kapitalverhältnisses.
Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob der
derzeitigeökonomische Umbruch und die damit einhergehenden Konflikte eine
fundamentale Krise markieren, das Wetterleuchten von Armageddon, wie Kurz
es beschwört, oder lediglich den Übergang zu einem neuen (in den Begriffen
der Regulationsschule: postfordistischen) Regime fortdauernder
kapitalistischer Akkumulation. Marco Revelli und andere italienische
Theoretiker neigen der zweiten Lesart zu und interpretieren den Konflikt
als typisch für das neue Akkumulationsregime. Revelli beispielsweise
bezeichnet die NATO-Intervention als "extreme (politische) Synthese" des
Postfordismus (zit. n. Atzert).
Einig sind sich die Analysen darin, daß der Ausgangspunkt des Krieges
gegen Jugoslawien in dem Epochenbruch liegt, der sich auf politischer
Ebene mit dem Datum von 1989 verbindet und der auf ökonomischer Ebene eine
grundsätzliche Veränderung des warenproduzierenden Weltsystems markiert:
Im Zeichen einerWeltökonomie, die von globaler Integration der
Warenproduktion und desWeltmarktes gekennzeichnet ist, werden immer
größere Segmente der Weltgesellschaft von der ökonomischen Entwicklung
abgekoppelt und fallen aus dem Regime der globalisierten Produktion
heraus. Zugleich lassen auch die entwickelten kapitalistischen Staaten den
Anspruch fallen, eine gleichmäßige soziale und ökonomische Entwicklung
anzustreben, wie er paradigmatisch durch das Modell Deutschland des
fordistischen Klassenkompromisses der Nachkriegszeit formuliert worden
war. (8) Anstelledessen werden soziale Ungleichheit und
gesellschaftlicheAusgrenzung akzeptiert und durch Naturalisierungen
gerechtfertigt, die entweder ethnifizierend oder gleich biologistisch
daher kommen. Diese Entwicklung betrifft bestimmte gesellschaftliche
Bereiche innerhalb des freien Westens ebenso wie ganze Volkswirtschaften
in den Peripherien; die Unterscheidung von Erster, Zweiter, und
DritterWelt wird dabei "tendenziell enträumlicht". Im Ergebnis entsteht
eine weltumspannende "strukturelle soziale Apartheid" (Joachim Hirsch).
Vor diesem Hintergrund konstituiert sich ein ökomomischer Ausgrenzungsimperialismus ('Festung Europa'
/'Festung Nordamerika') und
politischer Sicherheitsimperialismus auf weltweiter wie auf
binnengesellschaftlicher Ebene. Auseinandersetzungen werden in der Logik
dieses Imperialismus neuen Typs nicht mehr um die Aneignung von
Territorien oder die Konstituierung von Einflußzonen geführt; national
zentrierte territoriale Imperien oder wirtschaftliche Einflußsphären
verlieren an Bedeutung - auch wenn natürlich reaktionäre "Geopolitiker"
und "ein gewisses linksradikales Veteranentum", so Kurz (Ökonomie der
Ausgrenzung), "noch immer gewohnheitsmäßig über den strategischen Blaupausen eines vergangenen
Zeitalters brüten". Es geht nicht um Einverleibung (auch nicht
von menschlichen Ressourcen), sondern die strategische Orientierung bezieht
sich darauf, sich die Überflüssigen in der Peripherie vom
Leib zu halten und die kapitalistische Ökonomie "gegen störend unkontrollierte Gewaltausbrüche
der Herausgefallenen und ihrer Überlebenskonkurrenz zu sichern"
(ebd.). "Die von der universellen Marktwirtschaft selbst erzeugten
Katastrophen sollen möglichst draußen bleiben". Es entsteht
eine weltregional gestaffelte Ausgrenzungshierarchie, die von
einem Kern aus NATO und EU und wenigen mit ihnen assoziierten Ländern
(z.B. Ungarn) über Satrapen- und Operettenstaaten (Kroatien) bis
zu völlig unselbständigen, von internationalen Organisationen oder
Bandenkriegern 'verwalteten' Protektoraten (Kosovo)
reicht und zugleich eine Verelendungshierachie bildet. "Unter
diesen Bedingungen geht es den politischen und wirtschaftlichen Eliten
nicht mehr um die Sicherung von Territorien oder Volkswirtschaften, sondern
um das 'Funktionieren' des Prozesses insgesamt.
Es geht um die Sicherung gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge, um
die Absicherung gegen die Globalisierungsrisiken" (Bendrath). Demzufolge
hat sich der Sicherheitsbegriff seit 1989 verschoben, es geht um die
"Sicherheit vor Risiken". "Als Risiken können alle Entwicklungen
wahrgenommen werden, deren Ausgang offen ist undaus denen irgendwann eine
Störung des globalen Kapitalverwertungsprozesses entstehen kann"
(ebd.).
Die Logik des globalen Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus
konstituiert ein neues gemeinsames Meta-Interesse zwischen den
kapitalistischen Blöcken. Trotz aller Konkurrenz entsteht eine
gesamtkapitalistische Geopolitik, in der die NATO unter Führung der USA
zur gemeinsamen westlichen Weltpolizei wird und das Gewaltmonopol
beansprucht. Als Folge ist das Ende der völkerrechtlichen Souveränität
angebrochen, der Kapitalismus kann seine eigene internationale
Rechtsordnung nicht mehr anerkennen. (9)
Diese Analysen liefern einen Interpretationsrahmen für den Krieg, in
dem klar wird, daß es nicht der übermächtige US-Imperialismus war, der
etwa der BRD seine spezifischen Interessen aufzwang, und auch nicht
umgekehrt die BRD den US-Koloß listig im Dienste teutscher Geopolitik über
den Tisch zog. Allerdings ist einzuschränken, daß materialistische
Globalanalysen, wie sie oben skizziert wurden, notwendigerweise pauschalen
Charakter haben und deshalb Fragen offen bleiben. Dieses Problem läßt sich
am Beispiel der Kurz. schen Argumentation (Ökonomie der Ausgrenzung) illustrieren: Im
Krieg
gegen Jugoslawien sei es einmal mehr darum gegangen, die ausufernde
Krise des warenproduzierenden Weltsystems weltpolizeilich einzudämmen. Da
Milosevic dem Plan der EU in die Quere gekommen war, die
halbwegs produktiven Teile Jugoslawiens für das warenproduzierende System verfügbar
zu halten, wurde er zum Repräsentanten eines 'Schurkenstaates'.
Weil die 'humanitären Katastrophen' nicht mit der
Krise des warenproduzierenden Systems erklärt werden dürfen, mußte der
Kreuzzug gegen Milosevic den Charakter eines Kreuzzugs gegen das Böse
schlechthin annehmen. Hier sind etliche Fragen zu stellen: Inwiefern lag
in der Auseinandersetzung um den Kosovo eine Krise vor, die das
warenproduzierende Weltsystem potentiell bedrohte? Warum sind die
Konflikte in Jugoslawien überhaupt noch von Interesse, nachdem sich doch
mit der Sezession Sloweniens und Kroatiens die "halbwegs produktiven"
Teile schon 1991/92 aus dem Staatsverband verabschiedet haben? Welche
materiellen und ideologischen Konsequenzen hatte der Kreuzzug der NATO im
Kosovo, welche in der Bundesrepublik Jugoslawien, welche im restlichen
Südost- und Osteuropa? Kurz gelingt es nicht, diese Fragen zu beantworten,
weil er sich in seiner materialistischen Globalanalyse weder für die
politische, ökonomische und ideologische Mikrophysik des Kosovokonflikts
noch für die symbolische Ökonomie der NATO-Intervention sonderlich
interessiert.
Hinsichtlich der innerjugoslawischen Konflikte und der
Ethnisierungsprozesse, die dem Krieg vorausgingen, unternahm Alain Kessi
(Kosov@/NATO) einen ersten Versuch, deren Eigendynamik in Bezug zur
weltgesellschaftlichen Entwicklung zu analysieren. Auf die symbolischen
Aspekte der NATO-Intervention schließlich soll im folgenden Abschnitt kurz
eingegangen werden.
Clinton, Du Milosevic Du
Den symbolischen Rahmen des Kosovokonflikts kennzeichnet der
slowenische Psychoanalytiker Slavoj Zizek mit der Feststellung, daß "ein
Phänomen wie Milosevics Regime nicht ein Gegensatz zur neuen Weltordnung",
sondern ihr Symptom ist, das "ihre versteckte Wahrheit" ans Tageslicht
befördert. Regimes wie das von Milosevic (oder, im Zusammenhang mit dem
zweiten Golfkrieg, Saddam Hussein) seien nicht das Andere des
freien Westens, sondern vielmehr "seine eigene Kreatur", "ein Monster" nach
Hausmacherart. (10)
Figuren wie Milosevic markieren die Gestalt der neuen Weltordnung in ihren ausgegrenzten,
ökonomisch abgeschnittenen Sektoren: Gangster, Bandenführer jeglicher
Art, ob in Belgrad oder in der Inner City von L.A. Vor diesem
Hintergrund erscheint es sinnvoll, den Krieg gegen Jugoslawien in Analogie
zu einer Polizeiaktion, einer Razzia zu analysieren. Bei einer Polizeirazzia muß
es nicht notwendigerweise darum gehen, eine materielle Bedrohung auszuräumen
oder die betroffene Gegend dauerhaft unter Kontrolle zu bringen.
Noch viel weniger geht es darum, für die dort lebenden Menschen, potentielle
Gangster allesamt, erträgliche Lebensbedingungen herzustellen: Weder
die Herrschaft der Gangs nochdie Verhältnisse, die sie begründen, werden
letztlich angetastet. Wesentlich ist dagegen, daß die Polizeiaktion Definitionsmacht
begründet, materiell durchsetzt oder bestätigt: Definitionsmacht
darüber, was eine Bedrohung darstellt und was nicht, wer
guter Bürger ist und wer Krimineller, was toleriert wird und was nicht.
Es geht darum zu zeigen,daß die Herrschaft der Gangs subaltern ist und
auf die stillschweigende Duldung durch die übermächtige Gewalt des Staates (im
Weltmaßstab: der kapitalistischen 'westlichen Wertegemeinschaft'
) angewiesen bleibt. Die scheinbare Willkür, mit der von
dieser Verbrechen in manchen Situationen abgestraft werden und in anderen
nicht, ist Teil eines Kontrollregimes, in dessen Rahmen "Gewalt und Recht
ununterscheidbar werden" (Giorgio Agamben, zit. n. Atzert). Nachdem eine Gruppe (so wie
'die Serben') einmal als Kriminelle und Delinquenten definiert
ist, hat sie letztlich keinen Anspruch mehr auf irgendwelche Rechte.
Die Logik des Polizeiregimes interessiert sich nicht für Unterscheidungen
zwischen Soldaten, Deserteuren und Zivilisten, Regierenden
und Regierten. Die Barbarei desWestens zeigt sich nicht zuletzt
auch in der Gleichgültigkeit, mit der bei solchen Polizeiaktionen tote
Zivilpersonen als unvermeidliche 'Kollateralschäden' in Kauf genommen
werden.
In der Logik von Polizeiaktionen liegt auch, daß die aggressive Moralrethorik, mit
der diese begründet werden, nichts mit den realen Ergebnissen zu
tun haben muß. Es ist interessant zu beobachten, daß sowohl Saddam Hussein
wie auch Milosevic zunächst zum Abbild des absolut Bösen stilisiert wurden,
es dann aber keinesfalls nötig war, die Kriege gegen diesen neuen
Hitler auch zu gewinnen: Die Logik dieser Kriege war eben nicht die
eines Kampfes für die Menschenrechte und gegen die Barbarei, sondern die
einer Polizeirazzia, mit der ein paar lokale Gangs aufgemischt werden, um
zu zeigen, wer Herr im Hause ist. In diesem Sinne agierte die NATO erfolgreich,
ihre Intervention im Kosovokonflikt konstituierte zugleich ein
Kontroll- und Polizeiregime für ganz Südosteuropa. (Es sei hier auch
an die im Zusammenhang mit dem Konflikt von Fischer und Co. abgehaltenen
'Balkankonferenzen' erinnert, in denen die herbeizitierten Regierungschefs
der südosteuropäischen Staaten im Hinblick auf den Krieg die
Rolle eines Komittees 'Bürger helfen der Polizei' spielen durften.)
Mit der Abstrafung Milosevics und der Installierung der UCK im Kosovo
gelang es der NATO tatsächlich, sich als "linke Hand Gottes" (Zizek) zu
etablieren.
Was nun?
Vor dem Hintergrund, daß analytische Alternativen offenbar kaum
interessieren und praktische Handlungsmöglichkeiten fehlen, droht
innerhalb der Linken eine weitere Ausbreitungdes Zynismus. Welche
praktischen Konsequenzen ergeben sich aus dieser Situation für politische
Akteure, denen reine Negation und wohlfeile Distinktion nicht genügen? Wie
läßt sich eine Dritte Seite formulieren, die sich der Scheinpolarisierung
zwischen zivilisiertem Westen und vermeintlicher Barbarei verweigert und
gleichzeitig politische Wirksamkeit entfaltet?
Eine praktische Ursache für die Lähmung der linken Opposition gegen
diesen Krieg mag aus dem linker Politik zumindest in Deutschland
immanenten Zwang resultieren, moralisch Stellung zu beziehen: Wir sind
die Guten. Dieser Zwang führt zur Lähmung, wenn es darum geht, sich in
einer Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten zu positionieren, für die
man sich bei Verstand nicht entscheiden darf. (11) Das hat sich schon im Golfkrieg gezeigt,
und ähnliche Konstellationen sind auch in künftigen militärischen Konflikten
zu erwarten. Vor dem Hintergrund der Entwertung kommunistischer und
sozialistischer Utopien öffnet sich der Raum für nationalistische, rassistische
und 'fundamentalistische' Ideologien. Auseinandersetzungen,
die im Zeichen dieser Ideologien ausgetragen werden, können
verschiedene Dimensionen haben: Repression, Pogrom oder Revolte. Eine
eindeutige Bewegungsrichtung ist schwer auszumachen, es gibt jedoch kaum
mehr eine Möglichkeit, sich vorbehaltlos mit einer Partei zu identifizieren.
Das Argument, daß Nicht-Solidarisierung mit Figuren wie Saddam
Hussein oder Milosevic der Kriegspropaganda das Wort rede, geht am Kern
der Sache vorbei. Einmal davon abgesehen, daß linksradikale Kritik nun
das allerletzte ist, was seitens der Kriegstreiber als Legitimation herangezogen
werden müßte: Es kommt gerade darauf an, deutlich zu machen, daß
Machthaber wie Milosevic nicht Gegner der 'neuen Weltordnung' sind,
sondern deren Produkte. Milosevic und NATO brauchen sich für ihre jeweils
partikularen Interessen. Es wäre ein lohnender Versuch in diesem Sinne die
Totalitarismus-Theorie vom Kopf auf die Beine zu stellen: Clinton,
Schröder und Blair auf der einen und Milosevic auf der anderen Seite als
Repräsentanten zweier Pole der Totalität des Kapitalismus?
Die Handlungsmaxime 'der Feind meines Feindes ist mein Freund' gehört
endlich auf den Müllhaufen der Geschichte. In einer Zeit des
globalisierten und entfesselten Kapitalismus macht es keinen Sinn mehr,
sich mit Staaten oder nationalen Identitäten zu solidarisieren. Vielmehr
muß das Ziel sein, sich mit gesellschaftlichen Gruppen oder Organisationen
auszutauschen und gemeinsame Handlungsperspektiven zu entwickeln. Im Falle
dieses Krieges erwies es sich als wesentliches Defizit, daß die
Antikriegsbewegung vor dem Krieg praktisch keine Kontakte zu
oppositionellen Gruppen in Ex-Jugoslawien geknüpft hatte. Immerhin gab es
Ansätze hierfür: Alain Kessi (Kosov@/NATO), Florian Schneider
(Zivile Ziele und .
Balkanien.) und Mark Terkessidis über
ARKZIN (Die Fiktion vom
wildenBalkan) haben versucht, bestehende Möglichkeiten
aufzuzeigen.
Es wurde erneut deutlich, daß der außerparlamentarischen Opposition
zumindest hierzulande jede soziale Erdung fehlt. Wir müssen schleunigst
daran gehen, Bündnisse für konkrete politische Projekte zu schließen, die
über den gewohnten Umkreis hinausreichen. Die Versuche der Initiativen
"Kein Mensch ist illegal", den eigenen
Handlungsraum zu erweitern, sind dafür ein Beispiel. Wer dabei Angst hat,
die reine Lehre zu mißachten oder sich sonstwie die Finger schmutzig zu
machen, verfolgt kein politisches Projekt, sondern betreibt Kritik um der
Distinktion, sprich um des wohlfeilen Gut- bzw. Klugmenschentums willen.
Wir müssen jene Distinktionslinken alleine zurücklassen, denen es nicht um
gesellschaftliche Veränderung, sondern allein um die Frage geht:
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der radikalste/kritischste im
ganzen Land.
Es stellt sich die Frage, in welcher Weise einer diskursiven Formation wie dem
Kriegshumanismus entgegenzutreten ist. Hier hilft es nicht, eine Desavouierungsstrategie unter
Hinweis auf die 'wirklichen',
imperialistischen oder sonstigen Motive der Kriegstreiber zu betreiben.
Wegweisend wäre vor allem eine Kampagne für die Öffnung der Grenzen für
die Flüchtlinge gewesen. Der Aufruf "Break the logic of war! Desert! Open
the borders!" war ein Versuch hierfür. (12) Eine breitere Auseinandersetzung
darüber hätte offensichtlich werden lassen, wie humanitär diese
Kriegsbefürworter tatsächlich sind.
Es ist nicht der geniale ideologische Schachzug, und es sind auch nicht die
Massen, an denen es uns mangelt. Es bedarf vielmehr neuer sozialer Netzwerke
all derer, die sich in Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen
setzen wollen. Hierfür benötigen wir einen langen Atem, eine außerordentliche
Frustrationstoleranz und die Bereitschaft sich verwickeln zu
lassen. Dabei sollten wir nicht selbst Sicherheits- und Ausgrenzungsmechanismen
im Kleinen (re)produzieren, sondern die Fähigkeit entwickeln,
'fuzzy networks' über ideologische Differenzen und
unterschiedliche Motivationen hinweg zu knüpfen.
Weitere Texte der autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe zu Fragen der symbolischen
Politik und der Kommunikationsguerilla in der com.une.farce:
autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: "Symbolische" versus "richtige" Politik? Zur
unmöglichen Suche nach der richtigen Politik in der falschen.
In:
com.une.farce Nr. 0/1998.
autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: What about Communication Guerrilla? A message
about guerrilla communication out of the deeper German backwoods / Version
2.0 (all rights dispersed).
In: com.une.farce Nr. 1/98.
Anmerkungen:
(1) Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob sie dieser Inszenierung selbst
glaubten oder nicht. Uns erscheint ersteres wahrscheinlicher. <zurück zum text>
(2) Das heißt nicht, daß ein überzeugenderes diskursives Auftreten der
KriegsgegnerInnen alleine und unmittelbar eine stärkere Mobilisierung bedeutet hätte. <zurück zum text>
(3) Aber der Krieg fand ja vor der Sommersaison statt. <zurück zum text>
(4) Dieses Phänomen zeigte sich sogar in Griechenland, wo 90% der Bevölkerung den
Krieg ablehnten. Dennoch blieb militanter Widerstand eine Randerscheinung. Zwar kam es zu einer massiven Zunahme
von offenem anti-albanischem Rassismus, ansonsten aber zog der größte Teil der Bevölkerung aus der teilweise
vehement geäußerten Ablehnung des Krieges kaum politisch-praktische Konsequenzen. <zurück zum text>
(5) Ein weiteres Paradox ist das Faktum, daß die (anti-)deutsche Linke glaubte, sich
gemäß der Logik "der Feind meines Feindes ist mein Freund" auf die Seite 'der Serben' stellen zu müssen. In
dieser Logik eines Lumpen-Antiimperialismus fand sie ungewollte Begleiter: Die NPD nämlich diagnostizierte im
Kosovokonflikt eine Unterordnung der BRD unter die Interessen der USA und bezog konsequenterweise - der Feind
meines Feindes ist mein Freund - ebenfalls eine pro-serbische Position. <zurück zum text>
(6) Vgl. auch Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6: Die Ethnisierung
des Sozialen. <zurück zum text>
(7) Vgl. etwa. Ole See, zur Kritik: Robert Kurz:Immer wieder zweiter Weltkrieg. <zurück zum text>
(8) Alex Demirovic (Balkankrieg, Postfordismus, Global Governance) beschreibt aus
regulationstheoretischer Perspektive die Aufkündigung des fordistischen Klassenkompromisses als Teil der
Strukturkrise beim Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Form kapitalistischer Vergesellschaftung. <zurück zum text>
(9) Die ideologische Vorarbeit für die 'humanitären Interventionen' leisteten
Sozialdemokraten vom Schlage Ulrich Becks, Anthony Giddens u.a., als sie in den Kategorien von "Weltbürgertum"
oder "Zivilgesellschaft" neue Herrschaftsdiskurse entwickelten, die nicht mehr ausschließlich auf
nationalstaatlichen Kategorien beruhen <zurück zum text>
(10) Boris Buden von Bastard/Arkzin zitiert eine/n Belgrader Sprayer/in, der/die das
Problem mit den Worten "Slobo, Du Clinton" auf ihre Weise brilliant zusammenfaßt. <zurück zum text>
(11) Cynthia Cockburn (Being able to say neither / nor) verwies darauf, daß es
notwendig sei, sich falschen Alternativen zu verweigern. Vgl. auch die Bemühungen von Alain Kessi (Kosov@ -
Widersprüchlichkeiten und Subjektivitäten) in dieser Ausgabe der com.une.farce, neue Wege zu finden. <zurück zum text>
(12) Dieser Aufruf konnte an die im Zuge der Amsterdamer "Next5Minutes"-Tactical-Media-Konferenzen
(zuletzt im März 1999) begonnene internationale Vernetzung anknüpfen. <zurück zum text>
Literatur:
Thomas Atzert: Das
Imperium schlägt alle. Italiens Kriegsgegner
diskutieren den postfordistischen Krieg. In: Jungle World Nr. 25,
16.5. 1999, S. 27
Ulrich Beck: Der militärische Euro. Humanismus und europäische
Identität. In: Süddeutsche Zeitung, 1.4. 1999.
Ester Bejarano/Kurt Goldstein/Peter Gingold: Offener Brief an die
Minister Fischer und Scharping. In: Frankfurter Rundschau, 23.4. 1999.
Vgl. auch ak 427, 10.6. 1999, S. 6f
Ralph Bendrath: Die postmoderne NATO. Fragmentierte Herrschaft und
globalisierte Gewalt. In: Zivilcourage 23 (1997), 4. August 1997, S. 6-9
Franco Bifo Berardi: Offener Brief an die Männer und Frauen von . 68,
die die Macht haben (in englisch)
"Break the
logic of war! Desert! Open the borders!" (in englisch)
Boris Buden: The Official Bastard (ARKZIN) . statement on the war in
Yugoslavia . aving Private Havel, 20.4. 1999
Thymian Bussemer: Der Kosovo-Krieg und die Medien. Info-Desaster
oder Punktsieg des Journalismus. In: Vorgänge 38 (1999) 3, Nr. 147, S.
1-10
Cynthia Cockburn: Being able to say neither / nor (in englisch)
In: com.une.farce, encore.une.farce
Alex Demirovic: Balkankrieg, Postfordismus und Global
Governance. In: diskus 48 Jg. (1999) Nr. 2, S. 16-23
Alain Kessi: Kosov@/NATO. Ökonomie des Krieges und der
Kommunikation. In: com.une.farce no.2 Gekürzt auch in:
diskus 48 Jg. (1999) Nr. 2, S. 5-11 sowie in: Scharzer Faden 20 (1999) Nr.
1 (Nr.68)
Alain Kessi: Kosov@ - Widersprüchlichkeiten und Subjektivitäten.
Eine Einladung, genau hinzusehen und sich irritieren zu lassen. In:
com.une.farce no.3
Dirk Kretschmer: Die Last der Krieger. Über den rot-grünen
Kriegshumanismus und die (Un-)Möglichkeiten eines bewegten
Antimilitarismus. In: diskus 48. Jg. (1999) Nr. 1, S.5-8
Robert Kurz: Ökonomie der Ausgrenzung. Der globale
Krisenkapitalismus und der Balkan. In: Jungle World Nr. 19, 5.5. 1999
Robert Kurz: Immer wieder zweiter Weltkrieg. Wie die radikale Linke
ihre Opposition gegen die Menschenrechtskrieger unglaubwürdig macht.
In: Jungle World Nr. 30, 21.7. 1999, S. 6
Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6: Die
Ethnisierung des Sozialen, Berlin 1993
Marco Revelli: Pratiche di confine (in
italienisch)
Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt/Berlin/Wien 1981.
Florian Schneider: Zivile Ziele. In: Süddeutsche Zeitung, 20.4.
1999. Online: com.une.farce, encore.une.farce
Florian Schneider:"Balkanien" -
Land ohne Grenzen. In: Freitag Nr. 18, 30.4. 1999
Klaus Schönberger/Claus Köstler: Der freie Westen, der vernünftige
Krieg, seine linken Liebhaber und ihr okzidentaler Rassismus oder wie die
Herrschaft der neuen Weltordnung in den Köpfen begann. Marbach
a.N./Tübingen 1992. (Trotzdem-Verlag, Grafenau)
Ole See: Kein Krieg ohne Interessen. In: Friedensblätter für die
Friedensbewegung in Baden-Württemberg. Nr.44/September 1999
Mark Terkessidis: Die Fiktion
vom wilden Balkan: In: taz, 12.4. 1999
Immanuel Wallerstein: "Bombs away!" (in
englisch)
ZAK Tübingen: Auschwitz im Kosovo? Zur Gleichsetzung von
Massenvertreibungen mit der NS-Vernichtungspolitik. In: ak 427, 10.6.
1999, S. 6
Slavoj Zizek: Die
doppelte Erpressung. In: DIE ZEIT, 14/1999, 31.3. 1999
Slavoj Zizek: Die Nato - die linke Hand Gottes? Über die
Selbsttäuschung des Westens oder: Warum der Konflikt auf dem Balkan so
bald kein Ende finden wird. In: DIE ZEIT 26/1999, 24.6. 1999