Die Stadt als Beute
Rund um den Potsdamer Platz in Berlin entsteht ein neues Stadtzentrum,
das mit den herkömmlichen Vorstellungen von Innenstadt wenig zu tun hat:
Dort wird eine Privat City aus dem Boden gestampft, samt Straßen und
Städten im Besitz von Konzernen wie Daimler-Crysler und Sony. Die Berliner
Innenstadt ist nur einer von vielen Orten, an denen die grundlegende
Umstrukturierung der Städte sichtbar wird, die derzeit vor sich geht. Die
Tendenz, daß anstelle des Staates immer mehr private Investoren die
Innenstädte in Besitz nehmen, läßt sich in zahlreichen Großstädten
beobachten.
Klaus Ronneberger, Stephan Lanz und Walther Jahn untersuchten, wie die
Stadt zur Beute werden konnte. Sie beschreiben die derzeitigen
Entwicklungen anhand einer ganzen Reihe von Städten; neben Berlin
unterziehen sie auch Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, Oberhausen, Leipzig
und noch einige mehr einer Inspektion und zeigen, wie unauflöslich das
Bild der Städte mit globalen ökonomischen Entwicklungen verknüpft ist.
Dabei wirkt eine ganze Reihe von Faktoren zusammen. Zum ersten führte die
Umverteilung staatlicher Gelder zu einer kontinuierlichen Verringerung der
finanziellen Mittel, die den Kommunen zur Verfügung stehen. In der Folge
findet ein Ausverkauf städtischen Eigentums statt und das heißt vor
allem ein Ausverkauf von Grundstücken. Doch wer glaubt, daß die Städte
hier wenigstens finanziell herausholen, was zu holen ist, irrt. Der
Geldmangel trägt gleichzeitig dazu bei, daß die Städte sich zunehmend als
Unternehmer verstehen bzw. glauben, in Kategorien von Umsatz, Gewinnen und
Konkurrenz denken zu müssen. Folglich versuchen sie, im Kampf um
Standortvorteile andere Städte zu unterbieten. So haben private Investoren
freie Bahn: Zu Dumpingpreisen und unter Umgehung demokratischer
Entscheidungswege können sie die Innenstädte erobern. Das ist noch nicht
alles: In der Hoffnung, die Stadt zu einem finanzkräftigen Standort zu
machen, übernehmen die Kommunen häufig dazu auch noch den Großteil des
Investitionsrisikos, und im Gegenzug überlassen sie den Investoren sowohl
den gesamten stadtplanerischen Entscheidungsspielraum als auch den vollen
Gewinn.
Den Preis für diesen Standortkampf zahlen die sozialen Randgruppen der
Stadt. Sie werden auf dreifache Weise getroffen. Da die kommunalen
Finanzen in Großprojekten gebunden sind, wird vor allem im Sozialbereich
gespart; dies legitimiert ein politischer und medialer Diskurs, dem
zufolge Armut letztlich als selbstverschuldeter, moralisch verwerflicher
Zustand zu verstehen sei, fast schon als kriminelles Verhalten.
Leistungsempfänger werden unter Druck gesetzt zum Beispiel durch
Arbeits-Zwangmaßnahmen - ; an die Stelle von Bedürfnisbefriedigung tritt
Störungsabwehr.
Das Ende des eines Modells, das sich am ehesten als fordistischer
Klassenkompromiß bezeichnen läßt, zeigt sich auch in einer Stadtpolitik,
die auf Eigentum und nicht mehr auf Mietwohnungen setzt. Das hat soziale
Folgen, die sich in den Städten deutlich niederschlagen. Es kommt zu einer
Gentrifizierung, die einer Vertreibung der sozial Schwachen aus
städtebaulich interessanten Stadtvierteln gleichkommt, und das trägt
letztlich auch zu einer generellen Ausgrenzung aus den Innenstädten bei.
Die städtebauliche und kommunalökonomische Entwicklung spiegelt sich auch
auf dem Feld der Lebensstile wieder; mit Cappucchino und Lifestylekneipen
verdrängen die neuen Urbaniten alteingesessenes Kiezpublikum.
Die Autoren zeigen weiterhin, wie diese Tendenz mit dem seit Jahren
unvermindert präsenten Sicherheitsdiskurs verknüpft ist. Er wird nicht nur
aus der Kriminalisierung von Armut gespeist, sondern fungiert zudem als
politischer Nebenschauplatz, auf den die Unsicherheitsgefühle und Ängste
in einer durch Flexibilisierung und Rationalisierung zunehmend prekärer
werdenden ökonomischen Lage umgelenkt werden können. Die Folge ist eine
soziale Ausgrenzung, und gleichzeitig eine konkrete Einschränkung der
Bewegungsfreiheit im Stadtraum durch architektonische Mittel,
Platzverweise, private Sicherheitsdienste usw.
Auch der Einzelhandel ist eifrig bestrebt, soziale Randgruppen noch
weiter aus den Stadtzentren hinaus ins Abseits zu drängen. In den letzten
Jahren haben die "Speckgürtel" um die Innenstädte mit Gewerbeflächen und
Shopping Malls immer mehr ökonomisches Potential und Kaufkraft aus den
Zentren abgezogen. In Konkurrenz mit diesen Vorstädten versuchen nun die
innenstädtischen Ladenbetreiber, in den Stadtzentren eben das suburbane
Klima zu schaffen, in dem sie die Attraktivität der Vorstadtmalls
ausmachen.
Die abschließende Diagnose der Autoren lautet: Die Städte sind auf dem
Weg zu einer neofeudalen Struktur. Die Herrschaft über den Raum der Städte
ist gleichzusetzen mit einer Kontrolle der Gruppen; diese privilegierte
Form der Machtausübung wird derzeit in revanchistischer Weise gegen die
sozial Schwachen eingesetzt.
Die Autoren fassen die verschiedenen Stränge, aus denen sich das
Gesamtbild der derzeitigen Städte gewoben wird, als "revanchistische
Politik" zusammen, die vom Großteil der Bevölkerung mitgetragen wird. Im
Unterschied zu den Verhältnissen in den USA besteht hierzulande eine
spezielle Arbeitsteilung zwischen den institutionellen Strukturen des
Wohlfahrts-und Fürsorgesystems und privaten Trägern; dadurch widersetzen
sich diejenigen, die im sozialen Sektor tätig sind, einer Ausdünnung der
sozialen Leistungen.
Insgesamt konstatieren sie die Wiederkehr einer Doppelfigur, die man
schon aus dem 19. Jahrhundert kennt: Philantropie für die "würdigen
Armen", Strafen und überwachen für die "unwürdigen." Ronneberger, Lanz und
Jahn betonen dabe, daß dies "nicht die schlichte Rückkehr zum
traditionellen Liberalismus" bedeute, "sondern eine grundlegende
Neubestimmung der Topographie des Sozialen". Eine weiterführende
Bestimmung dessen, was die heutigen Formen sozialer Ausgrenzungen zu
neuen, noch nicht dagewesenen macht, steht noch aus.
Deutlich wird: Es gibt keine lineare Geschichte von Strafe und
Kontrolle, keine klare Verschiebung weg von einer strafenden Obrigkeit hin
zu einer internalisierten Kontrolle, sondern immer wieder historische
Momente, in denen sich die Funktionsweise der Macht neu strukturiert.
Ronneberger, Lanz und Jahn haben mit "Die Stadt als Beute" einen
umfassenden Überblick darüber gegeben, wie Deregulierung, neoliberale
politische Konzepte und die Abkehr vom fordistischen Modell das Bild der
Städte prägen und wie umgekehrt der urbane Raum als Brennglas für
gesellschaftliche Entwicklungen gelten kann. Um diese Aufgabe zu
bewältigen, haben sie sich dazu entschieden, nicht zu lange im Detail zu
verweilen, vielmehr größere Zusammenhänge herzustellen - auf Kosten von
ausführlichen statistischen Belegen auf der einen oder tiefergehenden
qualitativen Analysen auf der anderen Seite. Auch im Schreibstil haben
sich die Autoren im Niemandsland zwischen soziologischer
Fremdwortverliebtheit und erzählerischer Darstellung niedergelassen. Ein
bißchen schade ist das schon, denn der Erkenntnisgewinn, den dieses Buch
bietet, geht auf Kosten einer anschaulichen Sprache.
Am Ende des Buches steht eine Kritik der Analysen und Konzepte, die von
Soziologen und Stadtplanern in den letzten Jahren formuliert wurden. Die
Autoren führen die kulturpessimistische Angst vor Amerikanisierung als
Schimäre vor. Sie kritisieren das Verständnis des öffentlichen Raums, das
die meisten "professionellen Urbanisten" an den Tag legen, als reduziert
und als falsche Idealisierung der Stadt des 19. Jahrhunderts. Daran
anschließend versuchen die Autoren, das Unmögliche: Den guten Schluß, den
es geben muss, muss, muss. In einem Absatz nennen sie die
Innenstadt-Aktionen als Möglichkeit, derUmstrukturierung der Städte etwas
entgegenzusetzen. Dass diese das nicht leisten können, liegt auf der Hand,
vielleicht wäre es besser gewesen, tapfer auszuhalten, dass ausser einer
genauen Beschreibung der Zusammenhänge und Entwicklungen derzeit nicht
viel an politischem Potential greifbar erscheint, um wirksam gegen die
Verhältnisse anzugehen.
Ungeachtet dessen ist "die Stadt als Beute" ein Buch, das dringend
geschrieben werden mußte. Denn gerade daß derzeit kaum konkrete
Handlungsperspektiven in Sicht sind, macht eine solche Analyse um so
notwendiger. Klaus Ronneberger, Stephan Lanz und Walther Jahn haben eine
Menge Steinchen zu einem Mosaik zusammengetragen, welches das neue, sauber
polierte Gesicht der Stadt als Fratze erkennbar macht. Die Autoren machen
sichtbar, wie unterschiedliche Ebenen und scheinbar unabhängig
nebeneinander herlaufende Entwicklungen der Städte zu einem dichten, von
unzähligen Zwischenverbindungen getragenen Netz geknüpft sind, und zwar
auf allen Ebenen von der Ökononmie bis hin zum Alltagsdiskurs. Sie zeigen,
wie partikuläre Interessen in letzter Konsequenz alle in dieselbe Richtung
laufen und eine neuartige Form multipler Kontrollweisen im städtischen
Raum ermöglichen.
Klaus Ronneberger/Stephan Lanz/Walther Jahn: Die Stadt als Beute.
Dietz-Verlag Bonn 1999, 240 Seiten, 24,80 Mark.