"Der westliche Pazifismus und seine die Entpolitisierung vorantreibende
Haltung"
Ein Gespräch mit Slavoj Zizek
Der Philosoph, Psychoanalytiker und Medienintellektuelle par exellence
Slavoj Zizek ist einer der wenigen Gegner der Nato-Intervention im
Kosovo-Krieg gewesen, dem in der bundesdeutschen Öffentlichkeit die großen
liberalen Foren wie ZEIT
und Süddeutsche Zeitung nicht
verschlossen blieben.
Er ist als Kritiker eines "abstrakten Pazifismus" und eines
"repressiven Multikulturalismus" bekannt; die er als zentrale Formen einer
"post-politischen" Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte
charakterisiert. Zizek zufolge drückt sich die gegenwärtige hegemoniale
Form der Politik in einer "Post-Politik" aus, die einem Ende der
Ideologien beziehungsweise dem Ende des antagonistischen Klassenkonflikts
das Wort rede. Damit verbinde sich eine "Herrschaft von aufgeklärten
Technokraten" und "liberalen Multikulturalisten": "Post-Politik betont
[...] die Notwendigkeit, die alten ideologischen Trennlinien hinter sich
zu lassen und sich den neuen Problemen zu stellen, bewaffnet mit dem
notwendigen Expertenwissen und freier Beratschlagung, die die konkreten
Bedürfnisse und Forderungen der Menschen in Betracht ziehen." (Zizek 1998:
37f.) Diese Politik fördere faktisch die Entpolitisierung vor allem
minoritärer Gruppen. Während innerhalb klassischer politischer Theorien,
so Zizeks Interpretation, repräsentative Demokratie und Politik in
gewisser Weise synonyme Verwendung fänden, insofern sich durch die
Artikulation sogenannter Minderheitenprobleme immer auch ein gegen die
herrschende "neutrale" Universalität gerichteter radikaler
universalistischer Anspruch ausdrückte und darüber radikale
Demokratisierungsprozesse vorantreiben könnte, stelle die "Post-Politik"
diesen Prozeß still. Das im Multikulturalismus erhobene Postulat der
Toleranz nehme minoritären Gruppen die Möglichkeit, auf ihre partikulare
Weise Universalität artikulieren zu können und fördere irrationale und
gewaltförmige Artikulationsformen. Ein ausgedehntes
"rechtlich-psychologisch-soziologisches Netzwerk von Maßstäben" sorge für
die Identifizierung von immer genauer spezifizierten gesellschaftlichen
Untergruppen: "Was die Post-Politik zu verhindern sucht, ist [die] [...]
metaphorische Universalisierung partikularer Forderung. Post-Politik
mobilisiert den ganzen Apparat von Experten, Sozialarbeitern, und so
weiter, um diese Forderung (dieses Anliegen) einer partikularen Gruppe
genau auf diese Forderung mit ihrem bloß partikularen Inhalt zu
reduzieren". (Ebd.: 50)
Allerdings, räumt auch Zizek ein, geht von den postmodernen
Politisierungsformen auch eine enorm befreiende Wirkung aus. Vieles, was
lange als unpolitisch galt, wird inzwischen als Produkt und als
konstitutives Element des konkreten gesellschaftlichen Zusammenhangs
thematisiert. Gemeinsamer Nenner dieser "post-politischen" Form der
Politisierung ist die Kritik an Identität. Identitätskritik - sei es die
Artikulation von Nicht-Angehörigen der Metropolenmehrheit oder diejenige
von Nicht-Heterosexuellen - stellt immer auch die Selbstverständlichkeiten
der Mehrheitsgesellschaft in Frage. Sei es innerhalb der großen Politik,
innerhalb der Festlegungen von ethnischen Identitäten oder innerhalb des
weißen Feminismus - deren Anspruch auf "neutraler" Universalität wird
jeweils dadurch angegriffen, daß minoritäre Gruppen diese Differenz
offenlegen. Auch wenn damit nicht Identität als solche angegriffen wird,
so wird doch ihrer Unumstößlichkeit der Boden entzogen.
Es findet eine Politisierung bislang als apolitisch geltender Domänen
statt. Sie sollen nicht mehr ein "Teil ohne An-Teil", ein "Teil, das an
seinen Platz gehört", sein, sondern wahrgenommen - und in diesem Sinne
anerkannt - in ihrer eigenen Aussage ernstgenommen und verallgemeinert
werden. Dies kann allerdings sowohl bedeuten, als ein Teil des Ganzen
toleriert werden zu wollen und sich in diesem Sinne von einer
unterprivilegierten Position zu emanzipieren, kann aber auch dahingehend
gewendet werden, die gesellschaftliche Ordnung selbst in Frage zu stellen
und somit der herrschenden eine kritische, "linke" Universalität
entgegenzusetzen.
Momente der Identitätskritik werden allerdings auch als
Entwicklungsmöglichkeiten des globalisierten Kapitalismus aufgenommen. Sie
bieten in diesem Kontext die Möglichkeit, verschiedensten Positionen und
Identitäten ihren legitimierten Platz zuzuweisen, ohne daß ihre Genealogie
und Vernetzung berührt wird. Innerhalb dieser Entwicklung werden weitere
Differenzierungen und Überschneidungen geschaffen, deren kategoriale
Grundlagen und Machtbeziehungen eher modifiziert denn aufgelöst werden:
Männer übernehmen die sog. soft skills, Erziehungsurlaub wird geteilt,
besserverdienende Frauen leisten sich Putzfrauen, binationale Ehen
entstehen,die Medien feiern den Kanakhype, Deutsche lernen Salsa und
Bauchtanz, der Mainstream entdeckt die "Minderheiten". Die
Identitätspolitiken, welche zahlreiche, zuvor zum Verschwinden gebrachte
Existenzweisen und Partikularitäten wieder sichtbar gemacht haben, werden
vom Differenzkapitalismus integriert, ohne dass die Grundkategorien und
ihre Beziehungsweisen verschwinden.
Multikulturalismus ist nach Zizek die adäquate Ideologie eines
globalisierten Kapitalismus, der in einer Art "Selbstkolonisierung" die
Opposition zwischen Metropole und kolonisierten Ländern zugunsten einer
kolonisierenden Haltung gegenüber jedem Standort aufgelöst habe. Der
globale Kapitalismus beinhalte somit das Paradox einer "Kolonisierung ohne
kolonisierende nationalstaatliche Metropole", so wie der
Multikulturalismus einen "gönnerhaften eurozentristischen Abstand" hält:
"Mit anderen Worten ist Multikulturalismus [...] eine verleugnete,
verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassismus, ein Rassismus, der
Abstand hält' - er respektiert' die Identität des Anderen, nimmt das
Andere als eine in sich geschlossene authentische' Gemeinschaft wahr, zu
der er, der Multikulturalist, einen Abstand einhält, was seine
privilegierte universelle Position belegt." (Ebd.: 72f.) In einem Respekt
vor der Besonderheit des Anderen sieht Zizek die Behauptung der eigenen
Überlegenheit durchscheinen.
Insofern stellen die tolerante, multikulturalistische und die
intolerant eurozentristische Politik falsche Alternativen dar. Zizek
zufolge kann nur eine Repolitisierung der Ökonomie - allerdings nicht in
einem essentialistischen Sinn - dazu beitragen, daß Politik wieder zu
einem Ort des Kampfes um die Augestaltung der gesellschaftlichen
Verhältnisse werden kann. In der Akzeptanz der Entpolitisierung der
Ökonomie liege eine Beschränkung der politischen Debatte auf
"Lebensformunterschiede" begündet. Die Repolitisierung der Ökonomie würde
dagegen die Politiken identitätskritischer minoritärer Gruppen
effektivieren.
Das Gespräch mit Zizek fand im Juli in Berlin statt.
Frage: Sie haben sich mit der Rolle von Pazifismus und
Multikulturalismus im Kontext der Konlikte in Ex-Jugoslawien
auseinandergesetzt. Wie würden sie ihren theoretischen Ansatz in bezug auf
die Situation nach dem Kosovo-Krieg zuspitzen?
Zizek: Der abstrakte Pazifismus westlicher Prägung unterstützt den
Prozeß der Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte. Er entsteht
sicherlich aus einer Symphatie für die Opfer der Kriege, ich denke aber,
daß der Pazifismus eine tiefere Form von Rassismus enthält, eine
paternalistische Haltung. Das ist eine der Ursachen, warum der Konflikt
auf dem Balkan seine jetzige Form angenommen hat: Der westliche Pazifismus
und seine die Entpolitisierung vorantreibende Haltung. Der Pazifismus
besagt, daß es das Problem sei, daß die Menschen sich hassen würden und es
darauf ankomme, daß die verfeindeten Parteien miteinander kommunizieren
würden. Der Kosovo-Krieg hat aber nicht wegen mangelnder Kommunikation
stattgefunden.
Und was waren die Gründe für den Krieg?
Der Krieg fand statt aufgrund politischer Machtkämpfe. Der Pazifismus
fordert "mehr Toleranz" als Mittel gegen Rassismus. Diese Herangehensweise
ist falsch und mystifizierend. Die Antwort auf Intoleranz ist nicht
Toleranz. Toleranz ist lediglich eine abstrakte Antwort.
Teilen der abstrakte Pazifismus, den Sie hier kritisieren und die
Legitimation des Nato-Angriffes die gleichen Grundlagen?
Ja, diesen Gedanken habe ich in einem ZEIT-Artikel ausgearbeitet
(26/1999 vom 1.7.99). Offiziell stehen Nato-Ideologie und abstrakter
Pazifismus zwar in Opposition zueinander, sie teilen jedoch die gleiche
Grundlage: Die Entpolitisierung des Konflikts und die Thematisierung als
eine Art Naturkatastrophe. Alle sind irgendwie Opfer des Krieges, "Wir" -
der Westen - müssen den Frieden bringen.
Welche Rolle spielt hier die Frage der "nationalen Identitäten"
Meine Beobachtung ist hier, daß es diese nationale kulturellen
Traditionen schon sehr lange gibt und die Frage ist, wieso sie auf einmal
heute wichtig werden. Die Antwort ist auch hier wieder: Nicht die
kulturelle Tradition als solche ist interessant, sondern der politische
Machtkampf, der diesen Bezügen zugrundeliegt.
Kann die Wiederentdeckung kultureller Traditionen in Ex-Jugoslawien in
Anlehnung an den Begriff des Orientalismus als eine Art Balkanismus
beschrieben werden?
Ja, in einer Parallele zu dem von Edward Said geprägten Begriff des
Orientalismus gibt es einen Balkanismus im ehemaligen Jugoslawien.
Balkanismus beruht auf einer mythischen Identität, die beispielsweise Emir
Kusturica in seinen Filmen reflektiert. Er thematisiert etwa in
"Underground" die sogenannten "primitiven Leidenschaften" des Balkans
indem er genau das schafft, was der Westen zu sehen wünscht: Krieg, Sex,
Essen und Trinken als Bestandteil einer traditionellen Ordnung. Das ist
die einfache westliche Phantasie über den Balkan.
Diese Prozeß ist auch als Ethnifizierung beschrieben worden.
Der falsche Zugang zum Prozeß der Ethnifizierung ist es, positivistisch
festlegen zu wollen, welche sozialen Träger notwendig für diesen Prozeß
sind. Faktisch zeigt sich, daß sich große Bevölkerungsgruppen einfach
indifferent gegenüber dem Prozeß der Ethnifizierung verhalten. Ich bin
gegen solche generellen Thesen. Man sollte immer die konkrete Situation
betrachen und fragen: Was passierte zwischen Gemeinschaft A und
Gemeinschaft B, daß sie sich hassen? Genauer: Was passierte innerhalb von
Gemeinschaft A, daß sie einen externen Feind benötigt? Die Zugangsweise
über Ethnien ist auf jeden Fall die falsche Zugangsweise zu sozialen
Konflikten.
Zudem sollte man immer beachten, daß Ethnifizierung nichts mit einer
Rückkehr zu alten Traditionen zu tun hat. Ethnifizierung ist ein
postmodernes Phänomen, um einmal einen Modebegriff zu verwenden. Wenn
Ulrich Beck von einer reflektierten Moderne spricht, ist es auch nötig,
von einem "reflektierten" Rassismus zu sprechen: Der heutige Rassismus ist
ein "reflektierter" Rassimus, er ist nicht mehr der alte spontane und
organische Rassismus. Er stellt keine Rückbesinnung auf vormoderne
Elemente dar, sondern er ist ein notwendiges Produkt der
Modernisierung.
Wie erklären Sie die Macht dieser "reflektierten" Strategien?
Die neue Ethnifizierung, die Erfindung ethnischer oder religiöser
Wurzeln, ist Ergebnis einer "falschen" Liberalisierung. Das ist das
Paradox moderner Gesellschaften: Offiziell ist die moderne Gesellschaft
eine säkularisierte Gesellschaft, innerhalb derer die Individuen frei
seien und hedonistische Ziele verfolgen könnten. Faktisch hingegen gibt es
so viele Regulierungen des Alltagslebens wie noch nie zuvor: Sexualität,
Essen, Trinken, Rauchen - alles ist der Regulierung unterworfen. Mich
selbst ethnisch zu identifizieren bedeutet in diesem Kontext, mit all
diesen Regeln des bürgerlichen Durchschnittsalltags zu brechen. Es waren
Adorno und Horkheimer, die diesen Prozeß in bezug auf den Faschismus
beschrieben haben. Faschismus, so Adorno und Horkheimer, sei nicht nur ein
Rückfall in die Barbarei sondern auch eine Form der falschen Befreiung von
der Kontrolle über das alltägliche Leben. Dies ist ein zentraler Punkt, um
die Attraktivität des Konzepts der neuen Ethnifizierung zu erklären:
Falsche Befreiung von unserer postmodernen, regulierten
Gesellschaft.
In welchem Verhältnis sehen sie dieses Modell der neuen Ethnifizierung
und der herrschenden Ordnung der Geschlechter?
Eine Verknüpfung zwischen diesen beiden Herrschaftverhältnisse
herzustellen ist sehr populär, ich möchte aber davor warnen. Ich denke, es
gibt einen fundamentalen Unterschied, der darin besteht, daß der heutige
Spätkapitalismus nicht mehr auf eine patriarchal organisierte Herrschaft
zurückgreifen muß. Das ist das Problem, daß ich mit identitätskritischen
feministischen Ansätzen habe. Moderner Kapitalismus braucht zu seiner
Reproduktion keine fixierten Geschlechter mehr, deshalb geht die
Identitätskritik dieser Theorien ins Leere.1
Sogenannte sexuelle Perversionen sind heute längst nicht mehr subversiv;
obwohl es natürlich immer noch Probleme der Gleichstellung von
Homosexuellen gibt.
Wilhelm Reich dachte ja noch, die patriarchal organisierte Familie ist
der absolut notwendige Kern zur Reproduktion des Kapitalismus. Sexuelle
Liberalisierung sollte in dieser Logik letztlich den Kapitalismus
angreifen, weil sie die Rolle der Familie verändert. Heute sehen wir, daß
es nicht so einfach ist. Der Kapitalismus kann sehr wohl ohne Familien
überleben.
Hier komme ich wieder zum Ausgangspunkt: D ie Einteilung politischer
Prozesse in Liberalisierung und Modernisierung auf der einen und
Fundamentalisierung auf der anderen Seite ist eine grundsätzlich falsche
Einteilung. Wir sollten die Ideologie nicht akzeptieren, daß unser Feind
der Fundamentalismus sei. Fundamentalismus ist ein dialektisches Resultat
der spätkapitalistischen Strukturen. Wer nicht die Grundlagen des modernen
Kapitalismus hinterfragt, wird die Dynamik des modernen Rassismus nicht
verstehen.
Multikulturalismus und Rassismus sind demnach Bestandteile der selben
Sichtweise gesellschaftlicher Konflikte?
Gesellschaft unter dem Oberbegriff Kultur analysieren zu wollen, ist
für so viele Gruppierungen erst an dem Punkt interessant geworden, wo kein
ernstzunehmender Politiker oder Intellektueller mehr in der Lage war,
wirklich oppositionelle Gesellschaftsentwürfe zu dem herrschenden
demokratisch-parlamentarischen Typus zu entwickeln. Die Linke resignierte
vor Jahre und verzichtete auf Gesellschaftsanalyse mit politischen und
ökonomischen Kriterien zugunsten des Begriffes der Kultur. Der politische
Kampf drehte sich scheinbar plötzlich ausschließlich um Frage der
kulturellen Identität. Der Preis, den die Linke dafür bezahlte, war, daß
die Analyse von Gesellschaft generell entpolitisiert wurde. Das hat auf
einer allgemeinen Ebene damit zu tun, daß heute niemand Politik
beziehungsweise Ökonomie so wie sie funktionieren, angreifen will.
Ökonomie ist der wahre Diktator von heute. Die grundlegende Funktionsweise
des Kapitals wird einfach aus den Diskussionen ausgeblendet.2
Nochmal zurück zu ihrer Kritik von Toleranz als Allheilmittel gegen
Rassismus...
Nur um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich bin nicht gegen
Integration.
...Ja, aber hinter dem Begriff Integration, der sich als Form Toleranz
ausgibt, verbirgt sich oft - wie beispielsweise hier in der BRD - die
Vorstellung der Assimilation. Assimilation meint schliesslich Anpassung an
herrschende Identitätsformen.
Ich sehe die negativen Aspekte von dem, was sie Assimilation nennen.
Aber ich denke, daß eine einfache Gegenüberstellung einer "guten" Toleranz
und einer "schlechten" Assimilation falsch ist. Eine Gesellschaft, die
keine Assimilation einfordern würde, würde sich gefährlich einer Art
"Apartheid"-Logik nähern: Jede Gruppe soll für sich bleiben. Ein Beispiel:
In Slowenien entschied vor etwa zwei Jahre ein Gericht zugunsten eines
Vaters gegen seine Tochter. Der Vater wollte seine Tochter im Alter von
zwölf Jahren unter Berufung auf kulturelle Traditionen der Roma
verheiraten und verteidigte sich vor Gericht mit der Toleranz gegenüber
der kulturellen Identität der Roma, während sich die Tochter auf ihre
Unversehrtheit berief. Das Gericht entschied, daß ein Verbot einer solchen
Hochzeit einen Akt der gewaltsamen Assimilation darstellen würde und somit
nicht legitim sei. Ich möchte mit diesem Beispiel verdeutlichen: es gibt
keinen einfachen Weg, keine grundsätzliche Ablehnung von Assimilation. Es
ist immer einfach, tolerant zu sein, wenn der andere die gleiche
Vorstellung von Menschenrechten hat. Was macht man allerdings, wenn das
nicht so ist?
In dem Beispiels vermischen Sie zwei Ebenen. Es ist doch möglich,
unabhängig von kulturellen Identitäten gegen die patriarchale Ordnung zu
kämpfen.
Was ist mit einer ethnischen Gruppe, die sagt, die patriarchale Ordnung
sei ein grundlegender Bestandteil ihrer kulturellen Identität? Ich denke
der grundsätzliche Fehler ist, daß wir das Andere immer als das "gute"
Andere denken.
Um die Leser zu schocken möchte ich noch ein weiteres Beispiel bringen:
Ich nehme gerne in Debatten über Toleranz die Position eines Verteidigers
der Todesstrafe ein, weil ich zeigen möchte, daß jedes Argument gegen die
Todesstrafe eurozentristisch, also im multikulturalistischen Sinne
intolerant ist.
Das klassische Gegenargument gegen die Todesstrafe ist, daß die
Todesstrafe kein Verbrechen verhindere. Die Theorie, daß Strafe der
Prävention und nicht der Wiederherstellung der Gerechtigkeit diene, ist
Bestandteil des westlichen Gerechtigkeitsmodells. Alle anderen
Vorstellungen von Gerechtigkeit kennen diesen Präventionsgedanken
überhaupt nicht.
Was ich damit sagen möchte ist: Nennen Sie mir ein Argument gegen die
Todesstrafe, das sich nicht auf einen westlich-kulturellen Hintergrund
bezieht. So ein Argument gibt es nicht. Entweder gesteht man sich in
seiner Ablehnung der Todesstrafe seinen Eurozentrismus ein oder man muß
anerkennen, daß es in einigen Religionen und Kulturen Argumente für die
Todesstrafe gibt, die man nicht widerlegen kann.
Ein Gegenargument gegen die Todesstrafe wäre doch, daß sie sich immer
auf ein Staatswesen als Form der Macht bezieht, das über das Leben der
Menschen zu entscheiden trachtet.
Ja, aber ausserhalb des Westens gibt es ebenso Macht. Es ist doch
lediglich eine inverse Form von Rassismus anzunehmen, ausserhalb des
Westens wäre die Macht immer "besser".
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Ich bin gegen Eurozentrismus.
Aber es gibt auch Formen, wie klassisch eurozentristische politische
Theorien wie zum Beispiel die Menschenrechte in einem emanzipativen Sinn
benutzt werden. Wenn etwa in einer nichtwestlichen Dikatur im Namen der
Menschenrechte gegen diese Diktatur gekämpft wird, ist dieser Kampf nicht
automatisch eurozentristisch, es werden lediglich die Bedürfnisse der
Kämpfenden in den Begriffen des Humanismus formuliert.
Eine Kritik an Assimilation ist somit mit Vorsicht zu formulieren: Man
bedenke, daß die große Strategie des Kolonialismus - über lange Zeit die
Form der Herrschaft Europas über den Rest der Welt - nicht Assimilation
sondern Apartheid war. Englische Kolonisatoren zeigten großen Respekt vor
der indischen Kultur, insbesondere die Spiritualität wurde sehr bewundert.
Angst bestand nicht etwa vor deren Differenz, sondern davor, daß
"assimilierte Inder" "bessere" Kapitalisten als es die Kolonisatoren
waren, werden könnten. Die dominante Strategie war also ein "falscher"
Respekt vor anderen Kulturen. Ebenso in Südafrika: Ein Argument für die
Aufrechterhaltung der Apartheid war auch, daß Assimilation angeblich die
kulturellen Eigenarten der verschiedenen Völker zerstören würde.3
Was ich sagen will, ist, daß es zu einfach ist, zwischen "schlechter"
Assimilation und "guter" Toleranz zu unterscheiden. Beides sind Strategien
der westlichen Staaten, ihre Macht zu festigen.
Anmerkungen
1 Auch wenn Zizek hier identitätskritische feministische Ansätze
kritisiert, so bezieht er sich doch an anderer Stelle explizit auf die
Argumentation von Judith Butler. Er sieht bei Butler eine gelungene
Verknüpfung zwischen ökonomischem und kulturellem Kampf um Anerkennung von
Queer-Positionen. Zizek bejaht grundsätzlich Queer-Politik, möchte jedoch
auf das Problem hinweisen, daß das "postpolitische, tolerante
multikulturalistische Regime" inzwischen in der Lage sei, auch
Queer-Forderungen zu neutralisieren. <zurück zum text>
2 Diese Intervention zugunsten einer Kritik der politischen Ökonomie
will Zizek nicht als einen neuen Essentialismus verstanden wissen. Es geht
vielmehr um eine Analyse des Prozesses der radikalen Entpolitisierung der
Ökonomie. Ökonomie wird im Rahmen der neuen sozialdemokratischen Regime
als eine Art interessenlose Verwaltung der gesellschaftlichen
Angelegenheiten präsentiert. Die politische Zielrichtung der
objektivierten Sparzwänge ist auf dem entpolitisierten Terrain der
Ökonomie nicht mehr thematisierbar. Erst ein neuer Bezug auf ökonomische
Prozesse könne diese wieder politisierbar machen. <zurück zum text>
3 Kolonisierung in Form von Apartheid ist nicht das durchgängige
Merkmal aller Formen des Kolonialismus. Es ist maßgeblich der britische
Kolonialismus, auf den sich Zizek hier bezieht, der Differenz als
Herrschaftsstrategie in den Vordergrund stellt. Andere Formen des
Kolonialismus, beispielsweise der französische, zeichnen sich eher durch
Assimilation aus. <zurück zum text>
zum weiterlesen:
Ein Plädoyer für die Intoleranz, Passagen Verlag, Wien 1998
"Die
Nato - die linke Hand Gottes? Über die Selbsttäuschung des Westens
oder: Warum der Konflikt auf dem Balkan so bald kein Ende finden wird",
in: DIE ZEIT 26/1999 vom 24.6.1999
"Der Dritte Weg ist weg. Jugoslawien als westliche Projektion
betrachtet", in: Süddeutsche Zeitung vom 1.7.1999
"Der Westen braucht eine zweite Aufklärung. Der slowenische
Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek über die Folgen des Krieges in
Europa", in: Freitag 28/1999 vom 9.7.1999
"Wir müssen alles ändern, sonst ändert sich nichts. Der Krieg ist
vorbei, doch auf dem Balkan herrscht kein Friede. Wie soll es weitergehen?
Ein Gespräch mit dem serbischen Politiker Zoran Djindjic und dem
slowenischen Philosophen Slavoj Zizek.", in: Süddeutsche Zeitung Magazin
34/1999 vom 27.8.1999